INVESTIGATIV

Kurz-Prozess: Anatomie eines Schuldspruchs

Ex-ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz wurde wegen Falschaussage zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt – vorerst nicht rechtskräftig. Wie es dazu gekommen ist, und was das für zahlreiche weitere Ermittlungsverfahren, viele prominente Beschuldigte und die Arbeit von Justiz und Parlament bedeutet.

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Freitag, 23. Februar 2024, Straflandesgericht Wien, Großer Schwurgerichtssaal. Es ist 18:58 Uhr. In zwei Minuten, um 19 Uhr, will Richter Michael Radasztics das Urteil im zweifellos wichtigsten Strafprozess sprechen, den die Republik in den vergangenen Jahren erlebt hat. 

Radasztics betritt den Saal in Zivilkleidung. Beim Richterstuhl streift er bedächtig die Robe über, tippt etwas auf seinem Handy und legt es vor sich auf den Tisch. Dann ruft er zum letzten Mal nach zwölf langen Verhandlungstagen den früheren Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz in den Gerichtsaal. Alle erheben sich. Radasztics beginnt „im Namen der Republik“ – und schon nach wenigen Sekunden fällt das entscheidende Wort: „ist“. Ein Wort, das vor Gericht entscheidend ist, findet es sich doch in der Formulierung „ist schuldig“ – im großen Unterschied zu „wird“ im Satzteil „wird freigesprochen“.

Radasztics sah es als erwiesen an, dass Kurz in Bezug auf einen Anklagepunkt vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss des Nationalrats eine strafbare Falschaussage getätigt hatte. Zu zwei weiteren Vorwürfen sprach er den ehemaligen Kanzler frei. Von einem Sieg kann Kurz dennoch nicht sprechen, verhängte das Gericht doch eine Strafe von acht Monaten bedingter Haft.

Bernhard Bonelli, ehemaliger Kabinettschef von Kurz fasste sechs Monate bedingt aus. Er wurde in einem von vier Anklagepunkten schuldig gesprochen. Radasztics folgte der Ansicht, dass Kurz seine Involvierung bei der Bestellung des Aufsichtsrats der Staatsholding ÖBAG im Jahr 2019 unzulässig heruntergespielt habe – und später von Bonelli diesbezüglich gedeckt wurde. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, sowohl Kurz als auch Bonelli haben Rechtsmittel angekündigt. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) gab am Freitag keine Erklärung ab. Sie nutzt die mögliche dreitägige Bedenkzeit üblicherweise zur Berichterstattung an ihre Oberbehörden.

Abgesehen davon, dass erstmals seit Jahrzehnten (konkret: seit Ex-SPÖ-Kanzler Fred Sinowatz Anfang der 90er-Jahre) ein früherer Regierungschef einem Schuldspruch lauschen musste, könnte dieser Ausgang des erstinstanzlichen Kurz-Prozesses noch in mehrerlei Hinsicht große Bedeutung haben: für laufende Ermittlungsverfahren, die sich gegen eine Vielzahl prominenter Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft richten; für die Arbeit der Justiz; und möglicherweise auch für Untersuchungsausschüsse als schärfste Waffe parlamentarischer Kontrolle.

Der glaubwürdige Belastungszeuge Thomas Schmid

Nach erfolgter Verkündung des Urteils und des Strafmaßes setzte Radasztics am Freitag zu einer detaillierten Urteilsbegründung an. Und bereits nach wenigen Minuten kam er zu einem Punkt, der in zahlreichen renommierten Anwaltskanzleien der Republik für Nervosität sorgen wird – und bei deren Mandanten noch viel mehr. „Die Aussage des Zeugen Schmid war grundsätzlich glaubwürdig“, hielt der Richter explizit fest. „Schmid“ – das ist Thomas Schmid, ehemaliger Generalsekretär und Kabinettschef im Finanzministerium, späterer Vorstand der Staatsholding ÖBAG, unfreiwilliger Handychat-Archivar der türkis-blauen Regierung und potenzieller Kronzeuge der WKStA.

Schmid hat sich bekanntlich entschlossen, mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten. Er hat umfangreiche Aussagen getätigt und damit sich sowie zahlreiche andere prominente Persönlichkeiten schwer belastet. Mit einem Antrag auf Kronzeugenregelung hofft Schmid, straffrei davonzukommen. Der Antrag wird noch geprüft. Im Kurz-Prozess sagte Schmid als normaler Zeuge aus. 

Möglicherweise auch schon mit Blick auf die anderen Vorwürfe, zu denen Schmid belastende Aussagen getätigt hat, investierte die Verteidigung im Kurz-Prozess viel Energie, um an seiner Glaubwürdigkeit zu rütteln. Schmid ließ sich allerdings auch in drei intensiven Befragungen – zwei davon ganztägig – nicht in Widersprüche zu bisherigen Angaben verwickeln. Die Zeugenaussagen seien „in ihrer Gesamtheit“ glaubwürdig gewesen, hielt Radasztics fest. Schmid kommt logischerweise eine zentrale Rolle bei der Interpretation der bei ihm sichergestellten zahllosen Chatnachrichten durch die WKStA zu. Wesentlich sei gewesen, dass sich die Aussagen nicht nur mit der eigenen Kommunikation decken würden, betonte Radasztics, sondern auch mit der Kommunikation anderer. Schmid habe auch nicht den Eindruck erweckt, Kurz um jeden Preis schaden zu wollen.

Dass die Kurz-Verteidigung eidesstattliche Erklärungen zweier russischer Geschäftsleute aus dem Hut zauberte, um an der Glaubwürdigkeit des potenziellen Kronzeugen zu rütteln, stellte sich zumindest in erster Instanz als untauglicher Versuch heraus: Die Erklärungen seien inhaltlich fast gleichlautend gewesen, wobei sie ursprünglich aus einem E-Mail abgeleitet worden seien, begründete Radasztics seine Zweifel an der Aussagekraft. Und als die beiden Russen dann per Video-Schaltung nach Moskau als Zeugen befragt wurden, hätten beide ihre Angaben eingeschränkt.

Das Gericht, die WKStA und die Angeklagten

Richtungsweisend könnte der Kurz-Prozess jedoch auch sein, was die Arbeit der Justiz in Zusammenhang mit Verfahren anbelangt, die sich um hochgradig politische Sachverhalte drehen. profil hat alle zwölf Prozesstage in voller Länge mitverfolgt (und teilweise waren diese sehr lange). Die besonnene Vorsitzführung von Richter Radasztics hat sicherlich ihres dazu beigetragen, dass Vorwürfe eines „Polit-Prozesses“ letztlich nie ernstlich aufgekommen sind. Radasztics stellte sich betont in die Mitte zwischen der von der Kurz gezielt immer wieder attackierten WKStA und den Angeklagten. 

Er ließ dem Kurz-Lager Freiheiten, soweit es die Strafprozessordnung zuließ – beginnend mit dem Umstand, dass die Angeklagten nicht auf der eigentlichen Anklagebank sitzen mussten, sondern dem Auditorium den Rücken kehren durften; über eine umgedrehte Befragungsreihenfolge beim Zeugen Schmid; bis hin zu Fragestellungen, die sich mitunter schon deutlich vom inhaltlichen Kern des vorliegenden Verfahrens zu entfernen drohten. (Nicht durchgehen ließ er hingegen Wünsche wie die Löschung sämtlicher Schmid-Chats aus dem Akt. Es ist anzunehmen, dass die Kurz-Verteidigung, die diesbezüglich mit verfassungsrechtlichen Bedenken argumentiert, unter anderem hier bei ihren angekündigten Rechtsmitteln einhaken wird.)

Die Äquidistanz zwischen Anklage und Verteidigung respektive Angeklagten widerspiegelte sich auch im Urteilsspruch. Die WKStA hatte Kurz vorgeworfen, zu drei Punkten im U-Ausschuss falsch ausgesagt zu haben: zur Besetzung des ÖBAG-Vorstands mit Schmid, zum Grad der Involvierung des Bundeskanzlers in die Bestellung der ÖBAG-Aufsichtsräte und zu einer Posten-Vereinbarung zwischen Schmid und einem früheren FPÖ-Verhandler. Diesen Vorwürfen folgte Radasztics nur in einem der drei Punkte – und zwar in jenem, in dem er eine besonders dichte Gemengelage aus vorliegenden Aussagen kombiniert mit schriftlicher Dokumentation (unter anderem Chatnachrichten) ortete. Wobei die in diesem Fall vorliegenden Chat-Nachrichten durchaus von einer Mehrzahl an Absendern stammten. Freisprüche gab es da, wo eher nur vereinzelt Handychats vorlagen. Gut möglich, dass die WKStA daraus Schlüsse für potenzielle künftige Anklageentscheidungen zieht – jedenfalls, wenn das Urteil in der zweiten Instanz halten sollte. 

Radasztics zeichnete sich in der Prozessführung jedoch nicht nur durch die – nachgerade betonte – Äquidistanz aus. Er trug auch dem Umstand Rechnung, dass ein Verfahren wie der Kurz-Prozess von einer breiten Öffentlichkeit verfolgt wird. Nicht alle Journalistinnen und Journalisten sind Spezialisten für Strafrecht – insbesondere, wenn es um Feinheiten geht. Radasztics nahm sich immer wieder die Zeit, allgemein verständlich zu erklären, warum er etwas so oder anders entscheide. Und welche prozessualen Schritte welcher Logik folgen. Dies gipfelte in einer gut einstündigen mündlichen Urteilsbegründung, die vom Detailgrad und der anschaulichen Ausführung her weit über das gewohnte Maß hinausging. Auch das dürfte etwas sein, von dem die Justiz für allfällige weitere hochrangige Prozesse lernen kann. 

Die Sache mit den U-Ausschüssen

Lernen können jedoch unter Umständen auch die Parlamentarier. Radasztics gab der Verteidigung weitgehend Recht in deren harscher Kritik an der unangenehmen Befragungssituation in Untersuchungsausschüssen – im Vergleich zu deutlich geordneter ablaufenden Zeugenaussagen vor Gericht. Der Richter war selbst zwei Mal Auskunftsperson, weiß also, wovon er spricht. Letztlich verwies Radasztics freilich trotzdem darauf, dass der Gesetzgeber in Sachen Falschaussage keinen Unterschied macht, wo diese fällt.

Dies gilt allerdings mit einer Einschränkung, nämlich in Bezug auf den sogenannten Aussagenotstand. Wer im U-Ausschuss falsch aussagt, um sich nicht der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen, geht straffrei. In Bezug auf Kurz sah Radasztics das nicht als gegeben an. Der Ex-Kanzler habe – so der Richter – in erster Linie aus politischen Gründen falsch ausgesagt. Bonelli gestand er hingegen in Bezug auf einen Anklagepunkt einen Aussagenotstand zu. (Nicht jedoch in Bezug auf den Vorwurf, mit einer Falschaussage die Rolle von Kurz bei der Bestellung des ÖBAG-Aufsichtsrats heruntergespielt zu haben. Aussagenotstand gilt nämlich immer nur für die Auskunftsperson selbst.)

Dass Gerichte zunehmend Aussagenotstand in Betracht ziehen (dies auch amtswegig, da Kurz und Bonelli einen solchen eigentlich nicht direkt beantragt hatten), könnte großen Einfluss auf die Ausschussarbeit haben. Letztlich stellt sich die Frage, was die Wahrheitspflicht wert ist, wenn es um Sachverhalte geht, bei denen parallel auch Ermittlungsverfahren laufen.

Darüber hinaus nahm Radaszitcs auch die fragenstellenden Abgeordneten in die Pflicht: Diese seien dafür verantwortlich, konkrete Fragen zu stellen. Auskunftspersonen müssten zwar vollständig aussagen, nicht aber auf die Klarstellung von Fragen hinarbeiten.

Es ist zweifelsohne ein richtungsweisendes Verfahren, das am Freitag in erster Instanz zu Ende gegangen ist. Aber sicher nicht das letzte.

 

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).