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„NarcoFiles“ – Auf den Spuren des Organisierten Verbrechens

Drogen, Korruption, Geldwäsche: Wie ein E-Mail-Leak der kolumbianischen Staatsanwaltschaft Ausgangspunkt für eine Journalistenkooperation quer über den Atlantik wurde.

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Das Organisierte Verbrechen kennt keine Landesgrenzen. Journalismus, der sich ernsthaft damit auseinandersetzt, muss daher über den eigenen Tellerrand hinausblicken und sich international vernetzen. Das ist das Ziel des Projekts „NarcoFiles“. Ausgehend von Lateinamerika haben sich Dutzende Journalistinnen und Journalisten auf die Spuren eines illegalen Milliarden-Business begeben. Sie haben zu bereits gerichtlich abgeurteilten Verbrechen ebenso recherchiert wie zu noch laufenden Ermittlungen und Verdachtsfällen – und dabei besorgniserregende Entwicklungen dokumentiert, die bis tief in die EU hinein reichen.

Worum geht es beim Projekt „NarcoFiles“?

„NarcoFiles: The New Criminal Order“ ist eine internationale Recherche, die sich mit der modernen Welt des Organisierten Verbrechens befasst – und mit jenen, die dagegen ankämpfen. An der Journalistenkooperation sind mehr als vierzig Medienhäusern beteiligt. Es ist das größte Investigativprojekt zum Thema Organisierte Kriminalität, das jemals von Lateinamerika ausgegangen ist – einer besonders stark vom Drogenhandel und der damit einhergehenden Gewalt und Korruption betroffenen Region.

Ein inhaltlicher Schwerpunkt bezieht sich auf neue Entwicklungen im Bereich des internationalen Kokain-Handels – Veränderungen, die auch in Europa tiefe Spuren hinterlassen.

Ausgangspunkt des Projekts war ein E-Mail-Leak der kolumbianischen Staatsanwaltschaft „Fiscalía General de la Nación“. Die geleakten Daten wurden im Vorjahr mit dem „Organized Crime and Corruption Reporting Project“ (OCCRP) und mehreren lateinamerikanischen Medienplattformen geteilt – darunter „Cerosetenta / 070“, „Vorágine“ und das „Centro Latinoamericano de Investigación Periodística“ (CLIP). OCCRP stellte die Daten zusammen und vereinte Medienhäuser aus 23 Ländern dies- und jenseits des Atlantiks, um den Inhalt zu analysieren. In Österreich berichten neben profil auch noch der Investigativpodcast „Die Dunkelkammer“ sowie „Der Standard“. Die Ergebnisse erlauben einen seltenen Einblick in die Art und Weise, wie kriminelle Gruppen zusammenarbeiten, kommunizieren und in einer globalisierten Welt Veränderungen vorantreiben.

Woher stammt das Leak?

Im Jahr 2022 gelangte eine Gruppe von „Hacktivisten“ namens „Guacamaya“ an die E-Mails, indem sie in einen Microsoft Exchange Server eindrang, der von der kolumbianischen Staatsanwaltschaft genutzt wurde. In einer Presseaussendung, die dem Hacker-Kollektiv zugeschrieben wird, teilte „Guacamaya“ mit, man habe Institutionen angegriffen, die – aus Sicht der Hacker – Korruption und Organisierte Kriminalität ermöglichen würden.

Microsoft hatte bereits zuvor seine Kunden aufgefordert, Sicherheitsupdates durchzuführen. Viele Unternehmen und Institutionen in Lateinamerika haben dies jedoch nicht befolgt. „Guacamaya“ war in der Lage, diese Schwäche auszunutzen und die Staatsanwaltschaft sowie mehrere Militär- und Polizei-Institutionen, Regulierungsbehörden und Unternehmen in der Region zu hacken. „Guacamaya“ teilte die Daten mit zwei Organisationen: „Distributed Denial of Secrets“ (ein Kollektiv, das Datenleaks von öffentlichem Interesse archiviert und verteilt) und „Enlace Hacktivista“ (eine Internetseite, auf der Informationen über Hacking-Tools und Neuigkeiten publiziert werden). Diese beiden Gruppen teilten das Leak mit OCCRP und mehreren lateinamerikanischen Medienplattformen.

Die kolumbianische Staatsanwaltschaft eröffnete im Oktober 2022 ein Ermittlungsverfahren wegen des Datenlecks und teilte darüber hinaus mit, man überprüfe jenen Auftragnehmer, der für die IT-Infrastruktur verantwortlich war. Im Jänner 2023 erklärte eine Vertreterin der Staatsanwaltschaft dann, man würde Maßnahmen setzen, um die Cybersicherheit zu verbessern. OCCRP und die  kolumbianischen Recherchepartner haben die Staatsanwaltschaft kontaktiert, sie um ein Interview gebeten und ihr Fragen zum Leak geschickt. Bis Redaktionsschluss erfolgte keine Antwort.

Was findet sich in dem Leak?

Das Leak ist rund fünf Terabyte groß und enthält mehr als sieben Millionen E-Mails der kolumbianischen Staatsanwaltschaft – darunter Korrespondenz mit diplomatischen Vertretungen und anderen Behörden auf der ganzen Welt. Die Dateien, unter denen sich auch Audio-Files, PDFs, Tabellen und Kalender finden, reichen bis ins Jahr 2001 zurück. Der Großteil der Informationen konzentriert sich allerdings auf die Jahre 2017 bis 2022. Dokumente aus dem Leak ermöglichen einen seltenen Einblick in die innere Funktionsweise transnationaler Verbrechergruppen und in die Versuche der Behörden, diese zu bekämpfen.

Die am Projekt „NarcoFiles“ beteiligten Journalistinnen und Journalisten haben die Daten aus dem Leak unter anderem mit öffentlich verfügbaren Informationen, mit den Ergebnissen offizieller Anfragen, mit anderen Dokumenten und Datenbanken sowie mit Aussagen von Polizisten, verurteilten Verbrechern, Experten und Opfern abgeglichen, um die Authentizität zu bestätigen. Letztlich haben sich aus den Daten Ansatzpunkte für weitere Recherchen ergeben. In den meisten Fällen machen Dokumente aus dem Leak nur einen kleinen Teil der Quellen aus, auf denen die jeweiligen Artikel beruhen. Es wurde darauf geachtet, Dritte zu schützen und keine laufenden Ermittlungen zu gefährden.

Warum berichten OCCRP und die anderen beteiligten Medien über das Leak?

Organisiertes Verbrechen fördert Korruption, zerstört die Umwelt, verstärkt soziale Ungleichheit und bremst die wirtschaftliche Entwicklung. Daher ist es wichtig, dass investigativer Journalismus Verantwortliche und Verdächte im Bereich des Drogenhandels und anderer krimineller Aktivitäten – inklusive mutmaßlicher Ermöglicher und Helfershelfer – benennt und zeigt, wie diese arbeiten.

In Kolumbien haben Bürger das Recht auf Zugang zu Informationen von öffentlichem Interesse, und Medien haben das Recht, diese Informationen zu veröffentlichen – unabhängig von der Quelle. Laut einem Entscheid des kolumbianischen Verfassungsgerichts ist keine Quellen per se tabu für Journalisten. Jonathan Bock, Direktor der Organisation „Foundation for Press Freedom“ (FLIP), hielt gegenüber OCCRP fest, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung auch bedeute, dass Medien das Recht hätten, Informationen auf Basis ihrer eigenen redaktionellen Kriterien zu verbreiten, solange sie dabei im Einklang mit den Gesetzen und den Prinzipien journalistischer Verantwortung handeln.

OCCRP-Mitbegründer Paul Radu verweist darauf, dass Journalisten im Unterschied zu Strafverfolgungsbehörden leichter globale Allianzen bilden und damit einen größeren Überblick über die weltweiten Gegebenheiten im Bereich der Kriminalität herstellen könnten: „Das NarcoFiles-Leak hat uns die beispiellose Möglichkeit gegeben, ein viel klareres Bild davon zu zeichnen, wie Drogenhändler ihre grenzüberschreitenden Machtbereiche aufbauen und wie die Polizei von ihren Aktivitäten erdrückt wird.“

Hier geht es zur #NarcoFiles-Seite des OCCRP mit Links zu den Veröffentlichungen aller Projektpartner.

 

 

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).