Spionage-Causa Marsalek: Festnahme in Wien – profil-Chefin bespitzelt
Sie kamen um vier Uhr in der Früh – und sie kamen unsanft durch die geschlossene Tür. Als die Ermittler der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) flankiert von Spezial-Einsatzkräften der Polizei in den frühen Morgenstunden des 7. Dezember in einem Genossenschaftsbau im Süden von Wien zuschlagen, halten sie sich nicht mit Anläuten auf. Sie brechen die gesuchte Wohnung auf, holen die Bewohnerin heraus und nehmen sie unverzüglich fest. Zu groß ist die Gefahr, dass Beweismaterial vernichtet werden könnte. Zu schwerwiegend der Verdacht gegen die Frau: Es geht um einen internationalen Agenten-Ring. Es geht um Russland-Spion und Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek. Und es geht um bisher nicht bekannte Spitzeltätigkeiten in Wien. Unter den Opfern finden sich DSN-Chef Omar Haijawi-Pirchner. zwei weitere Staatsschützer, der frühere Landespolizeikommandant von Wien und nunmehrige ÖVP-Landesparteiobmann Karl Mahrer sowie der einstige Kabinettchef eines Innenministers. Auch profil-Chefredakteurin Anna Thalhammer wurde zum Ziel der Marsalek-Bande.
In London läuft gerade ein spektakulärer Gerichtsprozess gegen einen mutmaßlichen Agenten-Ring, der quer durch Europa spioniert haben soll – gelenkt von Marsalek im Auftrag der Kreml-Geheimdienste. Nun stellt sich heraus, dass das Spionage-Netzwerk deutlich weiter nach Österreich hineinreicht, als bisher auch nur geahnt. Und dass dieses seine Aktivitäten wohl bis heute fortsetzt. Im Zentrum der neuen Verdachtslage steht eine Frau, die direkt mit der Londoner Bande in Kontakt war – und in Wien besorgniserregende Tätigkeiten entfaltet hat.
Wie Informationen zeigen, die profil und der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“) vorliegen, war die DSN der Verdächtigen T. D. (Anm.: vollständiger Name der Redaktion bekannt) im zweiten Halbjahr 2024 auf die Spur gekommen. Zunächst erhielten die Ermittler im Juli 2024 vertrauliche Hinweise einer ausländischen Sicherheitsbehörde über mutmaßliche Spionagetätigkeiten Marsaleks in Österreich. Der frühere Manager des 2020 zusammengebrochenen Online-Zahlungsabwicklers Wirecard ist bekanntlich selbst österreichischer Staatsbürger, pflegte hierzulande beste Connections und setzte sich letztlich über den Flughafen Bad Vöslau per Privatjet in Richtung Russland ab. Von dort aus soll er für den russischen Geheimdienst eine Agenten-Gruppe in Europa gesteuert haben. Diese Gruppe – allesamt Bulgaren – operierte gemäß Verdachtslage von Großbritannien aus. Das flog jedoch auf. Mehrere Personen wurden festgenommen, zwei legten Geständnisse ab, drei weitere stehen derzeit in London vor Gericht – profil berichtete ausführlich.
Heißer Tipp zu Marsalek vom MI5
profil-Informationen zufolge kam der nunmehrige Österreich-Tipp vom britischen Geheimdienst MI5, der 80.000 Chat-Nachrichten der Marasalek-Bande sichergestellt hat, die nun von verschiedenen Ermittlungsbehörden in Europa ausgewertet werden – auch in Österreich. Unmittelbar nach dem Hinweis leitete die DSN auch hierzulande ein Ermittlungsverfahren gegen Marsalek ein.
Der schwerwiegende Verdacht: geheimer Nachrichtendienst zum Nachteil der Republik. Die Ermittlungen würden „auf geheimdienstliche Aktivitäten des russischen Nachrichtendienstes“ hindeuten, welche „gegen Mitarbeiter der DSN, des BMI oder gegen andere Personen aus sensiblen Bereichen gerichtet sind“, heißt es in einem DSN-Bericht an die Staatsanwaltschaft Wien vom 5. August 2024, der profil und „SZ“ vorliegt.
Marsalek soll im Auftrag russischer Geheimdienste „Personen und Orte, welche für den russischen Staat von Interesse waren“, observiert haben, schrieb die DSN auf Grundlage der mit ihr geteilten Informationen aus dem Ausland. Die operative Umsetzung sei „durch eine nachrichtendienstlich agierende Zelle“ erfolgt, die von Marsalek „beauftragt und koordiniert“ worden sei. Der erhaltenen Warnung aus dem Ausland zufolge hätten Ermittlungen ergeben, „dass Personen in Österreich observiert wurden, die Zugang zu sensiblen sicherheitsrelevanten, politischen, journalistischen oder gesellschaftlichen Informationen hatten“. Ziel sei gewesen, Telefone und Laptops dieser Personen zu beschaffen: „Diese Geräte sollten in Folge nach Russland verbracht werden.“
Marsalek habe diesen Plan „mit der Unterstützung lokaler Gruppen in Österreich“ ausgeführt und diese „mit nichtöffentlichen Informationen über die betroffenen Zielpersonen“ versorgt, heißt es im Bericht an die Staatsanwaltschaft. „Die Zielpersonen wurden scheinbar durch das nachrichtendienstliche Netzwerk Marsaleks ausgeforscht. Die gesammelten Informationen wurden in Berichten zusammengefasst und an Russland übermittelt.“
Österreichs Sicherheitsapparat als Ziel
Laut DSN-Bericht ging es um sechs „ausgewählte Zielpersonen“, insgesamt dürfte es jedoch mindestens sieben Opfer gegeben haben, darunter höchstrangige Geheimnisträger der Republik: profil-Informationen zufolge wurde sogar DSN-Chef Haijawi-Pirchner observiert – und auch seine Behörde. Ein hochrangiger ehemaliger Staatsschützer war ebenso betroffen, wie ein aktueller DSN-Mitarbeiter der mittleren Führungsebene. Weiters auf der Liste: ÖVP-Wien-Chef und Ex-Polizist Karl Mahrer sowie ein ehemaliger Kabinettschef eines ÖVP-Innenministers. Dazu kommen zwei besonders kritische Medienvertreter – ihrerseits naturgemäß ebenfalls Hüter sensibler Berufsgeheimnisse: Neben profil-Chefredakteurin Thalhammer ist mit Christo Grozev ein zweiter Journalist betroffen. Der kremlkritische Investigativjournalist gilt seit Jahren als Topziel von Putins Schergen.
Anna Thalhammer wiederum ist dem Marsalek-Netzwerk in Österreich seit Jahren intensiv auf der Spur. Bereits in ihrem früheren Job als Investigativjournalistin bei der Zeitung „Die Presse“ recherchierte sie intensiv zu den Umständen der unrechtmäßigen Razzia in der DSN-Vorgängerbehörde BVT (Anm.: Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung) im Februar 2018. Thalhammer heftete sich federführend auf die Fersen des früheren BVT-Beamten Egisto Ott, welcher schon damals der Russland-Spionage verdächtigt wurde. Ott steht mittlerweile im Verdacht, über den ehemaligen BVT-Abteilungsleiter Martin Weiss, der sich nach Dubai abgesetzt hat, Marsalek zugearbeitet zu haben – profil berichtete im Detail.
Alle haben sämtliche strafrechtlichen Vorwürfe immer bestritten.
Agentin aus dem Genossenschaftsbau
Offenbar war Ott jedoch nicht der einzige potenzielle Zuträger der Marsalek-Gruppe in Österreich. Nach dem Tipp aus dem Ausland kam die DSN nach und nach auf die Fährte von T. D. – der mutmaßlichen Agentin aus dem Genossenschaftsbau. Wie die in London festgesetzten Verdächtigen in der Causa Marsalek stammt auch sie ursprünglich aus Bulgarien. Seit rund zehn Jahren lebt T. D. in Österreich. Einer geregelten Erwerbstätigkeit ging sie bisher nur in eher unregelmäßigen Abständen nach. Einige Zeit war sie bei einer Personalvermittlungsfirma beschäftigt, später in einer Arztpraxis in Wien. Wiederholt war sie arbeitslos gemeldet. Zuletzt bezog sie Notstands- beziehungsweise Überbrückungshilfe. Dennoch lässt sich aus dem Facebook- und Instagram-Profil der Verdächtigen zumindest auf den ersten Blick keine allzu große Geldknappheit ableiten. Dort präsentiert sich die Frau modisch top-gestylt. Auch die eine oder andere Auslandsreise scheint sich in den vergangenen Jahren ausgegangen zu sein. Auf Facebook teilte T. S. zuletzt übrigens Wahlwerbung von FPÖ-Chef Herbert Kickl und freute sich mit blauen Emoji-Herzchen über den Erfolg der Freiheitlichen bei der Nationalratswahl Ende September.
Auf die Spur von T. D. gelangten die Ermittler offenbar, als sie die Tätigkeit von Marsaleks Londoner Bulgaren-Truppe in Österreich im Detail unter die Lupe nahmen. Bekanntermaßen besteht der Verdacht, dass der Agentenring den bulgarisch-stämmigen Journalisten Christo Grozev, der damals in Wien lebte, beschattete. In weiterer Folge soll bei Grozev sogar eingebrochen worden sein – und wie man heute aus Ermittlungen weiß, war er wohl nicht der einzige. profil-Informationen zufolge gab es auch bei anderen Opfern Einbruchsversuche. In Bezug auf Grozev sollen Marsalek und der Chef der Bulgaren-Bande in London – ein gewisser Orlin Roussev – sogar Ideen gewälzt haben, den Journalisten zu entführen oder zu ermorden.
Operation Airbnb
Offenbar um Grozevs Wohnung besser beschatten zu können, mietete sich die Londoner Truppe in einer ganz bestimmten Airbnb-Unterkunft in Wien ein. Von dort aus konnte der Eingang zu Grozevs Wohnhaus observiert werden. Die Anmietung erfolgte durch eine der bulgarischen Frauen aus dem mutmaßlichen Agenten-Ring. Diese hielt sich – Ermittlungsergebnissen zufolge – aber nur selten selbst dort auf. Der Vermieterin teilte die Frau mit, dass „ihre Freundin“ T., die in Wien lebe, vorbeikommen würde, weil sie eine Rückzugsmöglichkeit brauche, um in Ruhe für ihr Studium zu lernen. Auf Nachfrage wurde der Vermieterin der volle Name von T. D. und auch deren Telefonnummer übermittelt. T. D. wiederum bekam von der Bulgarin aus London den Schlüssel für die Wohnung.
Was genau hat T. D. dort gemacht? Nach ihrer Festnahme Anfang Dezember wurde die in Wien lebende Bulgarin mehrmals von den Ermittlern einvernommen. Dabei legte sie das ab, was Juristen als Tatsachengeständnis bezeichnen. Sie gab zu, in Zusammenhang mit Grozev die Speicherkarte einer Kamera gewechselt und die Fotos hochgeladen zu haben. Und sie gab zu, zumindest versucht zu haben, andere Personen zu beobachten.
„Verschiedene Jobs angeboten“
Hauptkontakt war demnach Vanya G., eine der Verdächtigen im Londoner Marsalek-Fall. T. D. behauptete, sie habe Vanya G. vor rund neun Jahren in der bulgarischen Hauptstadt Sofia kennengelernt. G. habe damals in einem Nagelstudio gearbeitet und bei ihr eine Maniküre durchgeführt. Im Zuge mehrerer Besuche habe man sich angefreundet. Vanya sei dann nach London gezogen. Im Sommer 2021 habe sich Vanya gemeldet und gefragt, „ob ich arbeiten würde und dass sie öfter nach Wien kommen wird“. Sie selbst sei zu dieser Zeit arbeitslos gewesen, sagte T. D. aus. G. sei für sie eine Freundin gewesen, die ihr „verschiedene Jobs angeboten“ habe: „Sie sagte, dass sie Hilfe für ‚eine Sache‘ brauchen würde, wo ich auch ein bisschen Geld bekommen würde. Diese ‚Hilfe für eine Sache‘ betraf ein Studentenprojekt in (…), wo ich bei der Kamera die Speicherkarte wechseln sollte. Im Endeffekt blieb es nicht beim Karte tauschen, sondern beinhaltete auch das Hochladen der Fotos. Im Laufe der Zeit wurde ich weitere Male um Hilfe geben, diesmal betraf es folgende Punkte: (…) Die Beobachtung von Personen wie zum Beispiel Anna, einer Journalistin und anderen Personen“.
T. D. gab an, für die Sache mit der Speicherkarte und den heimlichen Grozev-Fotos habe sie 700 Euro bekommen. Ihr sei erklärt worden, sie müsse lediglich „die Speicherkarten aus einer Kamera jeden zweiten Tag herausnehmen, die Daten bzw. die Fotos auf einem Laptop sichern und danach die Speicherkarten wieder löschen und diese Speicherkarten wiedereinsetzen.“ Für die Folgeaufträge seien ihr dann bis zu 2000 Euro geboten worden. Dafür sollte sie Fotos von Häusern machen, welche in Zusammenhang mit fünf bis sechs Personen standen. Vanya G. habe ihr im Mai 2022 zu jeder dieser Personen eine Art Karteikarte mit Informationen gesandt. Eine davon: eine Journalistin mit dem Namen „Anna“.
Anna Thalhammer bespitzelt
„Wie sie mit Nachnamen geheißen hat, weiß ich nicht mehr“, behauptete T. D. gegenüber den Ermittlern: „Ich weiß nur, dass Anna bei dem Verlag Presse gearbeitet hat und Journalistin ist. (…) Vanya wollte von mir, dass ich das Gebäude, wo Anna arbeitet, fotografieren soll, was ich auch getan habe. Ich habe vom Eingang des Verlagsgebäudes ein Foto gemacht und Vanya geschickt. Gleich darauf hat mich Vanya angerufen und gesagt, dass ich das Gebäude noch von anderen Seiten fotografieren und ihr schicken soll. (…) Vanya hat mir auch gesagt, dass ich mich in das Fischrestaurant L. setzen soll, wo laut Vanya und laut ‚Karteikarte‘ Anna essen geht. Sie hat mir gesagt, wenn Anna kommt, dann soll ich von ihr Fotos machen.“
T. D. behauptete bei ihrer Einvernahme, Anna Thalhammer letztlich nie persönlich gesehen zu haben. Sie gab aber zu, zumindest an drei Tagen versucht zu haben, sie zu beobachten. Als sie sich bei Vanya beschwert habe, dass die Besuche des Fischrestaurants teuer seien, habe ihr diese 50 Euro überwiesen.
Bulgarin bestreitet Spionagevorwurf
Auch gegen T. D. wird nun wegen Spionageverdachts ermittelt. Sie ist zwar auf der Tatsachen-Ebene weitgehend geständig. Das ändert jedoch nichts daran, dass sie den strafrechtlichen Vorwurf insgesamt bestreitet. Zusammengefasst behauptet sie, von den Hintergründen der diversen Aktionen nichts gewusst zu haben. Zunächst sei ihr gesagt worden, es handle sich um ein Studentenprojekt. Dann hätten sich die Bulgaren aus London als Interpol-Mitarbeiter ausgegeben, die bei polizeilichen Ermittlungen Unterstützung benötigen würden.
In der Verhandlung über die Verhängung der U-Haft am 10. Dezember 2024 am Landesgericht für Strafsachen Wien hielt die zuständige Richterin diese Verteidigungslinie für unglaubwürdig. Im Gerichtsbeschluss, der profil und „SZ“ vorliegt, heißt es: „Der dringende Tatverdacht zur subjektiven Tatseite ergibt sich zweifelsfrei aus dem äußeren Geschehensablauf (…). Die leugnende Verantwortung der Beschuldigten in Bezug auf die subjektive Tatseite, wonach sie geglaubt habe, dass es sich bei der Gruppe um Vanya G. um Interpol-Agenten gehandelt habe, ist nach der aktuellen Verdachtslage angesichts der dargestellten Beweislage und der Tatsache, dass die Beschuldigte – nach ihren eigenen Angaben – auch monetär für ihre Tätigkeiten entlohnt wurde, als Schutzbehauptung anzusehen.“
Letztlich verhängte das Gericht dennoch keine U-Haft über die Bulgarin. Zwar bestehe weiterhin Tatbegehungsgefahr, was rechtlich gesehen ein Grund für Untersuchungshaft sein kann. Die Tatbegehungsgefahr sei jedoch „nicht besonders stark ausgeprägt“, da die bisher bekannten Mitbeschuldigten in Großbritannien im Gefängnis sitzen und T. D. „nach der aktuellen Verdachtslage eine untergeordnete Rolle in der Gruppierung“ eingenommen habe. Die Frau durfte somit nach zwei Tagen die Justizanstalt Josefstadt wieder verlassen – gegen das Gelöbnis, weder zu fliehen, noch den Versuch zu unternehmen, die Ermittlungen zu erschweren.
Weitere Zellen noch immer aktiv
profil-Informationen zufolge gehen die heimischen Sicherheitsbehörden sehr wohl davon aus, dass es immer noch aktive nachrichtendienstliche Zellen in Österreich gibt, die von Marsalek gelenkt werden. Dazu könnte auch eine Beobachtung im Zuge der Ermittlungen gegen T. D. passen. Nachdem sie auf die Spur der Bulgarin gekommen waren, ließen die österreichischen Behörden T. D. überwachen. Dabei beobachteten sie sechs Mal, dass die Frau am Wiener Hauptbahnhof einen leeren Raum betrat. Um die verdeckte Observation nicht zu gefährden, konnten die Ermittler ihr nicht nachgehen, bis heute ist nicht geklärt, was T. D. dort gemacht hat. In der Festnahme-Anordnung hielt die Staatsanwaltschaft Wien jedoch fest, es sei nicht auszuschließen, dass „dort ein so genannter ‚toter Briefkasten‘ für die Beschuldigte eingerichtet ist, was bedeuten würde, dass sie weiterhin nachrichtendienstlichen Aktivitäten nachgeht“.
Nach ihrer Festnahme wurde T. D. danach gefragt. Sie behauptete, vor Jahren ein Alkoholproblem gehabt zu haben und sich manchmal auf dem Heimweg eine kleine Flasche Wein zu kaufen. Sie gehe in diesen Raum und trinke die Flasche dort heimlich. Die Richterin am Landesgericht Wien hielt das allerdings für „wenig glaubwürdig“.