In London geht derzeit ein spektakulärer Prozess gegen einen russischen Spionagering über die Bühne. Der Hauptangeklagte, Orlin Roussev, ist geständig. Der Bulgare steht zusammen mit vier Landsleuten vor Gericht, nachdem sie im März in London nach monatelanger Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst MI5 festgenommen worden waren. Bei Hausdurchsuchungen wurden Mobiltelefone und andere elektronische Datenträger sichergestellt, deren Auswertung eine überraschende Erkenntnis brachte: Agentenführer und Auftraggeber war niemand anderer als der flüchtige Wirecard-Manager Jan Marsalek, der unter dem Pseudonym Rupert Ticz operierte.
Etwa 80.000 Chats zeigen, wie Marsalek Roussev und seine Bande mit dem Ausspionieren von Kremlkritikern in halb Europa beauftragte. Wie er unangenehme Journalisten verfolgen ließ. Ihre Telefone und Laptops sollten gestohlen werden – man diskutierte über Entführungen und sogar Mordaufträge. Auch in Wien war der Ring höchst aktiv: Neben dem Chef des Inlandsgeheimdienstes wurden auch Politiker und Journalisten verfolgt, es gab erfolgreiche und versuchte Einbrüche. Hierzulande laufen die Ermittlungen ebenso auf Hochtouren wie in einigen anderen europäischen Ländern. Die britische Staatsanwaltschaft geht in ihrer Anklageschrift davon aus, dass dieser Spionagering mit Marsalek seit 2020 zusammenarbeitete. Kontoauszüge, die profil und „SZ“ vorliegen, zeigen aber, dass es bereits ab 2017 Überweisungen an Roussev gegeben hat.
Hotspot Singapur
Der Wirecard-Skandal hat viele Verästelungen in den asiatischen Raum – mutmaßliche Scheinkonstrukte in Singapur spielen dabei eine große Rolle. Derzeit läuft dort ein Prozess gegen Geschäftsleute des singapurischen Unternehmens „Strategic Corporate Investments“ (SCP), das eine wichtige Rolle im vermuteten Bilanzbetrug bei Wirecard gespielt haben soll. Millionen flossen in merkwürdige Kanäle, die Wirecard und das Unternehmen größer und potenter aussehen lassen sollten, als es wirklich war – so der Vorwurf.
Hinter dem Unternehmen SCP stehen enge Freunde von Jan Marsalek. Ermittlungen zeigen, dass die Firma spätestens ab 2015 immer wieder als „Treuhänder“ für Wirecard tätig war. Für die Deutschlandgeschäfte war bei dem Unternehmen ein Mann namens R. Shanmugaratnam zuständig, dem auch gerade der Prozess gemacht wird. Ihm wird vorgeworfen, regelmäßig Finanzdokumente für Marsalek gefälscht zu haben. Er soll dem damaligen Vorstand regelmäßig gefakte Bankbestätigungen besorgt haben – und nicht nur ihm. Auch für die Strategic Corporate Investments soll er Dokumente zu vorgeblichen Geldern gefälscht haben, die gar nicht auf deren Konten lagen, wie die Polizei in Singapur schon 2022 herausfand.
Der Zusammenhang zwischen beiden Unternehmen: Jan Marsalek soll Shanmugaratnam zur Dokumentenfälschung angestiftet haben. Es sollte der Eindruck entstehen, SCP würde viel Wirecard-Geld verwalten – das es aber tatsächlich nie gab.
Die SCP hätte demnach also das Drecksgeschäft für Wirecard erledigt. profil- und „SZ“-Informationen zufolge zeigen sich in den Kontoauszügen des Unternehmens auffällige Überweisungen gen Russland, und auch an Roussev wurden bereits 2017 mehr als 100.000 Dollar überwiesen. Wofür die Summe geflossen ist, das ist Gegenstand von Ermittlungen. Dabei wird auch versucht, eine Antwort auf folgende Frage zu finden: Baute Marsalek also schon 2017, als Vorstand eines DAX-Konzerns, einen russischen Spionagering in Europa auf? Und das womöglich sogar mit dem Geld von Wirecard?
Vertrauensvolle Zusammenarbeit
Dass Marsalek und Roussev einander schon länger kannten, zeigt auch ein Blick in die Firmen-E-Mails des Wirecard-Managers, die profil vorliegen. Die ersten Mails tauschten Marsalek und der IT-Experte bereits 2015 aus. Damals unterhielten sie sich etwa über abhörsichere Telefone. Und auch Geldflüsse von Wirecard direkt an Roussev sind dokumentiert – der Zahlungsdienstleister überwies 2019 etwa 30.000 Euro an das in Großbritannien ansässige Unternehmen des Bulgaren. Offiziell floss das Geld für IT-Dienstleistungen und die Lieferung von Servern. Roussevs Unternehmen verrechnete 4800 Euro für „Open Source Data Intelligence“. Weitere 90.000 für „Beratungsleistungen“, 18.000 Euro für IT-Dienstleistungen. Der Bayerische Rundfunk fand weitere Überweisungen, die Roussev über eine auf ihn registrierte Firma in Hongkong kassierte. 90.000 Euro wurden von Wirecard an eine Bank in Beirut angewiesen – angeblich für Software-Konfiguration. Eine zwischengeschaltete französische Bank lehnte den Transfer aber aus Compliance-Gründen ab.
Roussev sitzt wie seine Kumpane in London in Untersuchungshaft. Marsalek sitzt in Moskau – Ermittler in Österreich gehen davon aus, dass Roussevs Truppe nicht die einzige ist, die von dem Ex-Wirecard-Vorstand nach wie vor dirigiert wird. Es laufen intensive Aufklärungsarbeiten.
Es gibt übrigens keine Hinweise darauf, dass Ex-Wirecard Vorstandsvorsitzender Markus Braun davon gewusst haben könnte. Der Österreicher sitzt seit mehr als vier Jahren in U-Haft in Deutschland – so lange wie wohl kaum jemand anderer bisher. Braun verantwortete sich schon etliche Tage vor Gericht – er hat sämtliche Vorwürfe immer bestritten.
Die Anwaltskosten haben sein Vermögen aufgefressen. Mittlerweile wird er nur noch von einer Pflichtverteidigerin vertreten. Der Prozess läuft bereits seit Dezember 2022, nun wird das ausufernde Verfahren aber offenbar selbst dem Gericht zu viel. Man will den Prozess beschleunigen und sich auf die zehn wichtigsten Anklagepunkte beschränken. Sonst würde das Verfahren gegen den Ex-Wirecard-Vorstandschef und zwei weitere Manager nach Einschätzung der Richter nicht vor 2026 enden – und das sei auch für die Angeklagten unzumutbar. Nach Marsalek und einigen seiner Helfer – darunter der ehemalige österreichische Verfassungsschutz-Abteilungsleiter Martin Weiss – wird unterdessen per internationalem Haftbefehl gesucht. Dass sie jemals auf einer Anklagebank sitzen werden, ist aus heutiger Sicht eher zu bezweifeln. Bisher scheint es jedenfalls so, als hätten sie sich gerade noch rechtzeitig abgesetzt.