Klaudia Tanner: „Mir hat noch nie jemand vorgeworfen, feig zu sein“
Soll das Bundesheer ukrainische Soldaten ausbilden? Erst nach Ende des Krieges, sagt Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP). Ein Gespräch über Neutralität, Eurofighter und Schwarz-Blau.
Frau Ministerin, unabhängig von Ihrem Amt – was ist Ihre Privatmeinung zur Neutralität?
Tanner
Meine Meinung ist, dass sie eine lange Geschichte hat – und die Österreicherinnen und Österreicher haben auch eine sehr klare Meinung dazu, wie man in Umfragen sieht.
Ihr Generalstabschef Rudolf Striedinger sagte im profil-Interview: „Ich könnte dazu eine private Antwort geben. Als Generalstabschef lautet sie: Wir machen das Beste draus.“ Das klingt nicht sehr überzeugt.
Tanner
Ich finde es gut, dass er es so formuliert hat. Genau das ist seine Aufgabe als höchster General und Beamter. Als Politik geben wir die Linie vor. Neutralität heißt nicht, dass uns alles egal ist. Der Herr Bundespräsident hat eine schönere Formulierung gefunden: Neutral zu sein, heißt nicht, gleichgültig zu sein. Im Krieg in der Ukraine leisten wir unheimlich viel im humanitären Bereich. Wir liefern Notstromaggregate, Feldbetten und Röntgengeräte. Und Österreich hat 90.000 Kriegsvertriebene aufgenommen.
Die Ausbildung ukrainischer Soldaten an Panzern oder bei der Entminung verstößt laut Völkerrechtsexperten nicht gegen die Neutralität. Trotzdem lehnen Sie sie ab.
Tanner
Das ist eine Rechtsmeinung, von denen es durchaus unterschiedliche geben kann. Politisch sehe ich es klar: Militärische Neutralität heißt für uns, keine Panzer oder Waffen zu liefern. Daher ist es auch schlüssig, keine Ausbildung daran vorzunehmen. Wir helfen auf anderen Wegen.
Österreich würde ja keine Scharfschützen ausbilden, sondern Minen-Entschärfer.
Tanner
Ich finde es unabdingbar, im Rahmen der militärischen Neutralität sehr klar zu sein. Unabhängig von dieser Frage: Glauben Sie wirklich, dass es sinnvoll ist, Minen-Räumaktionen durchzuführen, während noch ein Krieg tobt?
Die neutralen Iren bilden jetzt schon die Ukraine für Entminungsdienste aus.
Tanner
Es ist eben die Aufgabe eines jeden einzelnen Staates, diese politische Entscheidung zu treffen. Nach Ende des Krieges stehen wir selbstverständlich bereit.
Wann ist der Krieg zu Ende? Was sagen die Heeresnachrichtendienste?
Tanner
Am Mittwoch hat das Krisenkabinett getagt. Unsere Dienste sehen kein baldiges Ende des Krieges.
Sie waren zunächst auch skeptisch, ob eine EU-Ausbildungsmission für ukrainische Soldaten mit der Neutralität vereinbar ist. Dabei forcierte die Idee Ihr Ex-Generalstabschef Robert Brieger, jetzt oberster Militär in der EU. Warum trauen Sie sich in der Hinsicht so wenig?
Tanner
Also mir hat noch nie jemand vorgeworfen, feig zu sein. Das ist eben wieder die Abwägung zwischen dem, was rechtlich möglich ist – und was politisch entschieden wird. Was unseren ehemaligen Generalstabschef betrifft: Er hat als höchster Militär der EU dort die Verantwortung zu tragen. Seine Aussagen wären wahrscheinlich andere gewesen, wenn er noch in Österreich an der Spitze stehen würde.
Bei der Sky Shield Initiative haben Sie weniger Bedenken: Auf Initiative Deutschlands wollen einige EU-Länder ein gemeinsames Raketenabwehrsystem aufbauen – es sind aber lauter NATO-Staaten.
Tanner
Es sind aber auch einige NATO-Staaten nicht dabei. Ich habe es als meine Verantwortung gesehen, dass wir von Anfang an dabei sind – angesichts dessen, dass wir die Bewachung in diesen Höhen und gegen Raketen sonst allein stemmen müssen. Ich hoffe, dass es schon im Sommer ein Memorandum of Understanding geben wird. Aber das entbindet uns nicht davon, weiterhin unseren Luftraum selbstständig mit Abfangjägern zu sichern.
Ohne Sky Shield müsste man alle Kosten selbst tragen. Polemisch formuliert: Die Neutralität endet dort, wo es zu teuer wird.
Tanner
Das ist etwas verkürzt dargestellt. Selbstverständlich werden wir nichts unterschreiben, was nicht der militärischen Neutralität und Verfassung entspricht. Am Ende des Tages geht es ja auch darum, wer im Ernstfall den Befehl des Abschusses geben würde.
In vielen Fällen wären das Sie als Verteidigungsministerin. Wie bereitet man sich auf so etwas vor?
Tanner
Mit diesem Punkt beschäftigt man sich schon von Anfang an. Ich bin mir sehr bewusst, dass das eine große Verantwortung ist. Aber dadurch, dass die Eurofighter 50 bis 60 Mal im Jahr aufsteigen müssen – bisher Gott sei Dank immer nur, wenn die Funkverbindung bei Fliegern unterbrochen ist –, kennt man die Abläufe sehr genau.
Offenbar sucht sich Österreich sehr genau aus, bei welchen Punkten man die Neutralität ausreizt und bei welchen nicht.
Tanner
Formulieren wir es anders: Ist das nicht gelebte europäische Solidarität, so wie wir es in anderen Bereichen tun? Jeder bringt sich in den Bereichen ein, bei denen es möglich ist und wo man die besten Fähigkeiten hat. Ich halte es außerdem generell für falsch, den Wunsch der Österreicher nach Neutralität zu ignorieren.
Das könnte man als populistisch bezeichnen.
Tanner
Man kann sagen, dass das populistisch ist. Geht es nicht um das Volk? Am Ende des Tages machen wir Politik für die Bevölkerung, die mit großer Mehrheit für die Neutralität ist. Die Österreicher bekennen sich aber gleichzeitig zur gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU und wollen, dass Österreich seinen Beitrag leistet. Also nein zur NATO, aber ja zu einer europäischen Verteidigung.
Die Österreicher wissen wahrscheinlich wenig von der EU-Beistandspflicht, gemäß der auch Österreich ein angegriffenes EU-Land unterstützen muss, ohne Rücksicht auf die Neutralität.
Tanner
Was die EU-Beistandspflicht bedeutet, sollte man tatsächlich gegenüber der Bevölkerung stärker kommunizieren. Allerdings: Sollte ein solcher Fall eintreten, gibt es verschiedene Abstufungen, wie Österreich seiner Beistandspflicht nachkommen kann, und damit gibt es auch verschiedene Handlungsmöglichkeiten.
Im März 2022 flog eine Drohne aus der Ukraine bis nach Kroatien, wo sie abstürzte. Wenn eine Drohne heute bis nach Österreich fliegt, könnte das Bundesheer sie nicht abschießen. Wer trägt die Verantwortung dafür, wenn was passiert?
Tanner
Unsere passive Luftraumüberwachung funktioniert sehr gut. Wir hatten diese Drohne immer am Radarschirm. Aber es steht außer Frage, dass wir in vielen Bereichen Aufholbedarf haben. Wir werden jetzt die Saab-105-Jets nachbeschaffen, die im Jahr 2020 ausgemustert wurden. Es steht noch nicht fest, ob wir nur Unterschall-Jets beschaffen, die auch als Trainingsflugzeuge genutzt werden, oder auch Drohnen. Jedenfalls werden wir unsere Militärpiloten wieder in Österreich ausbilden und nicht wie derzeit in Italien und Deutschland.
Im Verteidigungsministerium läuft eine Prüfung, ob zusätzliche Eurofighter beschafft werden. Gibt es ein Ergebnis?
Tanner
Die endgültige Entscheidung ist nicht getroffen. Wir rüsten die bestehenden Eurofighter nach, was Nachtflugtauglichkeit, Identifizierungsmöglichkeiten und Selbstschutzfähigkeiten betrifft. Das System Eurofighter ist bis 2035 angelegt. Wir werden rechtzeitig nachrüsten.
Gehen die Piloten aus?
Tanner
Wir haben schon länger Personal-engpässe bei Piloten, aber auch bei IKT-Spezialisten. Allerdings merken wir, dass die Aufbruchstimmung, die im Heer herrscht, positive Auswirkungen auf die Personalsituation hat. Wenn neues Gerät beschafft wird, folgt das Personal. Und wir gehen neue Wege und bilden etwa unsere IKT-Spezialisten selbst aus. Bei einer großen NATO-Übung zur Cybersicherheit hat das Bundesheer unlängst den fünften Platz unter 36 Nationen erreicht. Aber klar ist, dass wir um Personal kämpfen müssen, ob bei Piloten oder Ärzten.
Wie sehr müssen Sie um Rekruten kämpfen? Gerade in Wien hat man den Eindruck, dass das Heer sich vor allem auf Wehrpflichtige mit Migrationshintergrund stützt, weil diese Bevölkerungsgruppe oft zum Militär geht, während viele andere den Zivildienst bevorzugen.
Tanner
Im Schnitt der Bundesländer entscheiden sich immer noch mehr junge Männer für den Wehrdienst. Aber wir stehen hier im Wettbewerb mit den Zivildienst-Organisationen. Die Soldaten mit Migrationshintergrund sind eine unglaubliche Bereicherung. Das hat man in der Pandemie gesehen, als die Soldaten am Flughafen die Einreisenden kontrollierten. Da konnten wir alle Sprachen abdecken. Das Bundesheer ist das größte integrative Instrument, das wir haben. Darauf sollten wir stolz sein.
Laut Umfragen ist nicht einmal ein Viertel der Bevölkerung bereit, Österreich mit der Waffe zu verteidigen.
Tanner
Im Vergleich etwa mit nordischen Ländern ist das sehr wenig. Wir reden oft von der wehrhaften Demokratie. Ich freue mich daher, dass die geistige Landesverteidigung wieder in den Lehrplänen ist. Wir müssen das Bewusstsein an die nächste Generation weitergeben, dass die Landesverteidigung nicht an den Kasernentoren endet.
Zur Zukunft der Miliz: Sie lehnen die Wiedereinführung der verpflichtenden Milizübungen ab. Früher mussten Grundwehrdiener nach ihren sechs Monaten Grundwehrdienst in den folgenden Jahren Truppenübungen im Ausmaß von zwei Monaten machen.
Tanner
Wir stärken die Miliz mit einem Gesamtpaket in Höhe von 200 Millionen Euro. Klar ist, dass deutlich mehr geübt werden muss. Junge Männer wieder für acht Monate statt sechs zu verpflichten, ist angesichts des Facharbeitermangels politisch nicht möglich. 2024 wird es aber eine große Milizübung geben. Und wir sind dabei, schnell einsatzbereite Milizverbände aufzustellen, die sogenannte Reaktionsmiliz.
Diese Frage stellt sich nicht. Die Wahlen sind 2024, und bis dahin haben wir viel zu tun.
Viele Frauen werden da noch nicht dabei sein.
Tanner
Tatsächlich konnten wir bisher nicht genug Frauen für die Miliz gewinnen. Mit dem freiwilligen Grundwehrdienst haben wir jetzt eine neue Möglichkeit geschaffen, mehr Frauen für das Bundesheer zu gewinnen.
Wann wird es denn die erste Generalstabschefin in Österreich geben?
Tanner
Sobald die erste als höchstqualifizierte Bewerberin auf diesen Posten berufen wird. Bei uns gibt es seit dem Jahr 1998 Soldatinnen. Wir haben zwei Frauen im Rang eines Brigadiers, eine Regimentskommandantin und bald die erste Bataillonskommandantin.
Und eine Verteidigungsministerin.
Tanner
Ja, die auch.
Würden Sie als Ministerin auch in einer schwarz-blauen Koalition zur Verfügung stehen?
Tanner
Diese Frage stellt sich nicht. Die Wahlen sind 2024, und bis dahin haben wir viel zu tun. Wir setzen jetzt den Aufbauplan 2032 für das Bundesheer um, generalstabsmäßig. Ich habe keine Zeit, mich mit politischen Spielchen zu beschäftigen.
In Ihrer Heimat Niederösterreich koaliert die ÖVP jetzt schon mit der FPÖ.
Tanner
Da möge man dort nachfragen. Am Ende des Tages entscheidet der Wähler, im Bund ist das Gott sei Dank erst 2024.
Fotos: Alexandra Unger