Neues Schulfach

Kritik an Digitaler Grundbildung: "Peinlich für die Republik"

Schüler scheitern dabei, im Internet zwischen Fakes und Fakten zu unterscheiden. Im neuen Pflichtfach Digitale Grundbildung sollten sie genau das lernen. Doch die Bilanz nach dem ersten Schuljahr fällt durchwachsen aus.

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Wenn die Schilderungen eines 15-jährigen Schülers repräsentativ sind, dann kämpfen die Jungen derzeit mit einem unguten Gefühl: Ohnmacht. „Gegen Fake News kann man eh nix machen. Da muss man damit leben, dass man sich nie sicher sein kann“, sagte der Bursche im November des Vorjahres in einer Fokusgruppe des Instituts für Jugendkulturforschung.

Wer einen Gutteil seiner Freizeit auf Plattformen wie YouTube und TikTok verbringt, kommt zwangsläufig mit Lügnern, Betrügern und Verschwörungserzählern in Kontakt – und zwar ohne jeden Filter. Wie unterscheiden die Jugendlichen, ob sie einer Quelle vertrauen oder nicht?

Laut der Studie scheitert die große Mehrheit an dieser Aufgabe. Ihr einziger Kompass durch das Netz an Lügen ist, so sagten sie es in den Fokusgruppen: das Bauchgefühl.

58 Prozent der 11- bis 17-Jährigen würden gerne mehr darüber wissen, wie sie Informationen im Internet überprüfen können. Mehr als zwei Drittel wünschen sich, dass das Thema im Unterricht behandelt wird.

Wie kann das sein?

Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Schüler lernen, wie sie eine gute PowerPoint-Präsentation erstellen können. Der Punkt ist nur: Da wurde die Chance vergeben, den Kindern und Jugendlichen einen kritischen Umgang mit digitalen Medien zu vermitteln.

Philipp Mittnik, Professor an der Pädagogischen Hochschule Wien

Neues Schulfach: Schlechter als sein Ruf

Auf den Stundenplänen der Schüler in den Mittelschulen steht seit diesem Schuljahr das Fach „Digitale Grundbildung“. Bildungsminister Martin Polaschek schwärmte zum Schulbeginn im September 2022 für das Prestigeprojekt und versprach: Die Schüler würden nun endlich lernen, wie sie Fake News erkennen können. Doch diese Ankündigung war etwas überoptimistisch, wie ein Rundruf bei Experten und Pädagoginnen zeigt. Tatsächlich ist das neue Pflichtfach vor allem eines: verbesserungswürdig.

Kaum jemand bestreitet die Sinnhaftigkeit des neuen Faches. Philipp Mittnik, Professor für Politikdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Wien, sieht allerdings einen groben Konstruktionsfehler beim Lehrplan: „Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Schüler lernen, wie sie eine gute PowerPoint-Präsentation erstellen können. Der Punkt ist nur: Unter digitaler Bildung versteht man international etwas ganz anderes. Da wurde die Chance vergeben, den Kindern und Jugendlichen einen kritischen Umgang mit digitalen Medien zu vermitteln.“

YouTube ist die neue ZIB

Wie bitter nötig das wäre, zeigt ein Blick auf das Nutzungsverhalten der Jungen: Um sich über Politik, Sport und Kultur zu informieren, setzen 80 Prozent der 11- bis 17-Jährigen auf Soziale Netzwerke wie TikTok. Das ergab eine Studie im Auftrag von Saferinternet, die im Februar 2023 veröffentlicht wurde. Auf den Plätzen zwei und drei der beliebtesten Informationsquellen folgen die Videoplattform YouTube und Online-Influencer. Klassische Nachrichtenprodukte sind weit abgeschlagen.

Mittnik, der auch Vorstand der Interessensgemeinschaft für Politische Bildung (IGPB) ist, ackerte den Lehrplan der digitalen Grundbildung durch. profil liegt das Ergebnis vor: Der Begriff Fake News kommt in vier Unterrichtsjahren ein einziges Mal vor, in der siebten Schulstufe. Von insgesamt 72 Kompetenzen, die Schüler in dem Fach erlernen sollen, würden „höchstens 32 Prozent soziale, menschenrechtliche, ökologische Aspekte umfassen“. Und: „Deutlich weniger zielen auf eine kritische Reflexion der Digitalisierung ab.“ Bei den Anwendungsübungen sei das Missverhältnis noch offensichtlicher: „Nur 18 Prozent berücksichtigen die Reflexion gesellschaftlicher Auswirkungen der Digitalisierung“, schreibt die IGPB.

Informatik statt Durchblick

Die Interessensgemeinschaft fordert gegenüber profil eine Überarbeitung des Lehrplans. Das Fach könne „ein wichtiger Beitrag für ein umfassendes Verständnis der Digitalisierung als auch für den Aufbau eines reflektierten Politikbewusstseins und der Persönlichkeitsbildung sein. Der vorliegende Lehrplan leistet dies jedoch nicht“.

Das Problem wird in den Schulbüchern fortgeschrieben. In den wenigen Werken, die zur digitalen Grundbildung zugelassen sind, geht es fast nur um Informatik: Suchmaschinen benutzen, Präsentationen gestalten, erste Schritte beim Programmieren. Im 240-seitigen Schulbuch „vernetzt. Digitale Grundbildung“ wird das Thema Falschinformation bloß mit vier kargen Sätzen abgehandelt: „Über die sozialen Netzwerke werden immer wieder Falschmeldungen verbreitet. Häufig beeinflussen diese ,Fake News’ die Leserinnen und Leser in ihrer Meinung. Um dies zu verhindern, solltest du dich in unterschiedlichen Quellen informieren und dir somit eine eigene Meinung bilden. Dazu kannst du auch in seriösen Quellen im Internet, Fernsehen oder Tageszeitungen umschauen [sic!].“

Das war’s. Das ist der ganze Lesestoff zum Thema Desinformation für vier Schuljahre.

Aus seinen Untersuchungen weiß Mittnik, dass sich Lehrkräfte im Unterricht in diesem Fach am Schulbuch orientieren: „Natürlich gibt es engagierte Lehrer, die sich Übungen selber zusammensuchen. Man braucht sich nicht viel vormachen, dass das nicht der Großteil sein wird.“

„Eltern können derzeit sicher nicht die Gewissheit haben, dass ihre Kinder in der Schule auf die Gefahren im Internet sensibilisiert werden.“

Barbara Buchegger, Pädagogische Leiterin von Saferinternet.at

Barbara Buchegger bekommt das persönlich zu spüren. Als Pädagogische Leiterin von Saferinternet.at stellt sie Übungsblätter für Lehrer zusammen, die Schüler gegen die Gefahren im Internet immunisieren sollen. Bei ihren Schulworkshops bekommt Buchegger einen guten Eindruck davon, wie es den Lehrkräften mit dem neuen Fach geht. Und was davon bei den Schülern hängen bleibt.

„Eltern können derzeit sicher nicht die Gewissheit haben, dass ihre Kinder in der Schule auf die Gefahren im Internet sensibilisiert werden.“ Es gebe zwar sehr engagierte Lehrer, sagt die Expertin, doch die Qualität des Unterrichts hänge stark vom Schulstandort ab.

Hoffnung auf externe Vortragende

Kein Wunder, dass bei Saferinternet.at die Anfragen für Schulworkshops zum Thema Online-Betrug und Fake News heuer nach oben schossen. „Vermutlich aus der Hoffnung heraus, dass die Schulen uns das Thema Fake News umhängen können“, sagt Buchegger. Doch das ist kein sinnvoller Plan. Ein einzelner Tag könne die Schüler nicht für alle Betrugsmaschen sensibilisieren, das Thema müsse in der Schule mehr Raum einnehmen, erklärt die Expertin. Dazu kommt: Die Workshops sind für die Schulen kostenpflichtig, oft springt der Elternverein bei der Finanzierung ein – wenn es einen gibt. Ausgerechnet von den Brennpunktschulen bekomme sie die wenigsten Aufträge, erzählt Buchegger.

profil telefonierte mit mehreren Lehrkräften, die das Fach seit heuer unterrichten. Der Lehrplan sei so dicht, dass sich alle Punkte kaum ausgingen. „Etwa 50 Prozent bringe ich durch“, schätzt eine Junglehrerin aus Niederösterreich, je nachdem, welches Vorwissen die Klasse hat. Der Fokus auf technische Skills lasse sich kaum vermeiden, kritisiert die Pädagogin: „Die Schüler bekommen ein Tablet von der Schule. Natürlich muss ich ihnen beibringen, wie sie das benutzen. Ich fände das Thema Fake News aber wichtiger, als dass ich mir mit ihnen die ganzen Techniksachen ansehe.“

"Peinlich für die Republik"

Eine Tiroler Pädagogin erzählte profil, dass sie sich Unterrichtsmaterialien und Übungsbeispiele selbst im Internet zusammensuchte; Schulbücher zum Thema erreichten ihre Schule erst gar nicht in Klassenstärke.

Das neue Fach erzürnt sogar den Zeitgeschichte-Professor Oliver Rathkolb von der Uni Wien. „Das ist sehr peinlich für die Republik“, sagt er. Rathkolb sieht das Bildungsministerium als Wiederholungstäter: „Die große Angst in der politischen Bildung ist immer: Nur ja keine Parteipolitik. Diese Absenz der politischen Interaktion ist ein Problem. Das war früher bei der Staatsbürgerschaftskunde genau gleich. Jetzt machen sie denselben Fehler wieder bei der Digitalen Grundbildung: Meine Befürchtung ist, dass in der Praxis viele Lehrkräfte bei der Informatik hängen bleiben. Dabei wäre es so wichtig, dass die Jungen lernen, Informationen kritisch zu interpretieren. Es geht darum, gesellschaftspolitische Chancen und Gefahren des Internets deutlich zu machen und das anhand von konkreten Alltagsbeispielen zu diskutieren.“

Bildungsministerium verteidigt Lehrplan

Das Bildungsministerium ist weiter vom Lehrplan der Digitalen Grundbildung überzeugt. Zum Vorhalt, dass Fake News nur an einer Stelle im Lehrplan erwähnt werden, konterte ein Sprecher Polascheks: Medienbildung sei „eine tragende Säule“ des Lehrplans. Für Lehrkräfte stünden über Serviceportale wie die Eduthek über 1000 Unterrichtsmaterialien und Videos für das Fach zur Verfügung.

Bis das Wissen bei allen Schülern ankommt, müssen sie sich ihre eigenen Strategien zurechtlegen, um mit Falschinformationen fertigzuwerden. Eine 14-Jährige erzählte Jugendforschern im Vorjahr, wie sie vorgeht, wenn sie die Glaubwürdigkeit einer Information nicht einschätzen kann: „Dann scrolle ich einfach weiter.“

Jakob Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.