Bowie als Ziggy Stardust im Londoner Hammermith Odeon, 1973. Dress-Design: Kansai Yamamoto

50 Jahre David Bowies Ziggy Stardust: Stern zu Staub

Vor 50 Jahren erschien das erste postmoderne Album der Musikgeschichte: David Bowies Verwandlung in das Rock’n’Roll-Alien Ziggy Stardust ließ im Pop keinen Stein auf dem anderen. Eine Passage durch eine legendäre Platte.

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Im Sommer 1972 trat eine Figur im britischen Musikfernsehen auf, wie man sie im Pop nie zuvor gesehen hatte. Ein junges Wesen mit smaragdgrünen Augen und rostrotem Haar, im eng anliegenden, regenbogenfarbenen Einteiler, selbstbewusst, androgyn, wie vom Himmel gefallen. Entspannt lächelnd besang es den „Starman“, der in friedlicher Mission von den Sternen zur kurz vor dem Untergang stehenden Erde herabgestiegen war – und es schien, als meinte David Bowie damit auch sich selbst: den außerirdisch anmutenden Popstar, der uns zur Seite stehen wird, wenn wir nur bereit sind, seine fremde Schönheit anzunehmen. Er nannte die Kunstfigur, die er erschaffen hatte, Ziggy Stardust.

Genau ein Jahr später, am 3. Juli 1973, stand Bowie, festgehalten von dem Kinodokumentaristen D. A. Pennebaker, im Londoner Hammersmith Odeon ein letztes Mal als Ziggy auf der Bühne: 
eine Celebrity mit Glitzerohrringen und schwarzem Augenhöhlen-Make-up, spindeldürr, ausgemergelt von Arbeitsfieber, Alkohol und harten Drogen. Stardust, das wurde spätestens hier klar, steht nicht nur für Meteoritenstaub, sondern auch für Kokain. 

Am 16. Juni 1972 war David Bowies fünfte Langspielplatte erschienen, ein Konzeptalbum: Es trug den theatralischen Titel „The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“ und erzählte von einer kaputten Welt, die exzentrische Idole braucht, von einem Absturz, einer Rock’n’Roll-Selbstzerstörung in elf Songs und achtunddreißigeinhalb Minuten Laufzeit. Der Londoner David Robert Jones, der sich – inspiriert von einem Jagd- und Kampfmesser – den Künstlernamen David Bowie gegeben hatte, war 25 Jahre alt. 

Das Album erzählt die Geschichte der Kreation eines Superstars, die auch dessen Darsteller berühmt machte. Nach vier Alben, die mit überschaubarem Erfolg in die Welt gesetzt worden waren (auch wenn „Hunky Dory“, das vierte, 1971 veröffentlicht, ein weitgehend unerkanntes Meisterstück war), kam jäh der Weltruhm. „Ziggy Stardust“ wurde bis heute geschätzte 7,5 Millionen Mal verkauft. Eingespielt in zwei Tranchen zwischen 8. November 1971 und 

4. Februar 1972, versinnbildlicht es die aus der Mode gekommene Idee des Albums auf geradezu ideale Weise: als großes Ganzes, das mehr als die Summe seiner Einzelteile ist, jedes Stück brillant, aus einem Guss. „Ziggy Stardust“ ist eine Masterclass in Sachen Superstarproduktion.

Bowie machte sich hier erstmals zu seiner eigenen Leinwand; er durchlief zwischen 1972 und 2016 eine Reise, die von Ziggy Stardust zu „Blackstar“, seinem großen letzten Album, führte. Bowie war ein Sammler von Ideen, Philosophien und Charakteren, hinter denen er abtauchen konnte. Das Elend des Ruhms, so rauschhaft er wirken kann, lernte Bowie kennen, während er ihn spielte: Die Götter sind für die Hölle bestimmt. Davon handelt „Ziggy Stardust“. 

A1. Five Years

Seite eins (A), Song eins (1): „The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“ startet mit der Feier des Schmerzes im Abschied von einem sterbenden Planeten. Nur noch fünf Jahre, um zu weinen, singt Bowie hier. Das ist die apokalyptische Blaupause, der Jahrzehnte später noch Filme wie Abel Ferraras „4:44 Last Day on Earth“ (2011) und Adam McKays Netflix-Hit „Don’t Look Up“ (2021) folgen sollten. Eine aus der Melancholie geborene Welt- und Menschenliebe setzt ein, plötzlich ist alles schön: die Telefone und die Opernhäuser, die Musik, sogar die Bügeleisen und die Fernsehapparate. In der Dystopie flammt ungeahnt die Zuneigung zu seinen Nächsten auf: „And all the fat, skinny people / And all the tall, short people / And all the nobody people / And all the somebody people / I never thought I’d need so many people.“

Bowies Text, die Verarbeitung eines Traums, versammelt surreale Szenen von ausbrechendem Irrsinn, Gewalt und Trauer: ein sich dramatisch in seine Streicher-Arrangements hochschraubender Song als Ausgeburt eines überlasteten, schmerzenden Gehirns, bittersüß melodisch und ominös zugleich. „Five Years“ ist der perfekte Start für das dunkle Epos um den Rock’n’Roll-Heiland Ziggy Stardust. 

A2. Soul Love

Ein Zwischenspiel zur Essenz der Herzensdinge, die dialektische Übung eines Liebeslieds, das zugleich Selbstkritik übt und Misstrauen gegen die Liebe anmeldet: „All I have is my love of love / And love is not loving.“ Bowies Gesangslinien klingen eingängig, weil er sie derart sicher phrasiert, als hätte er sie schon tausendmal intoniert, dabei sind sie alles andere als simpel. Man muss nur versuchen, Texte wie diesen mit- oder nachzusingen: Die komplexen Rhythmen in der Umsetzung seiner Lyrics sind Teil der Größe dieser Kompositionen. 

A3. Moonage Daydream

Das lose Narrativ um den Titelhelden nimmt im dritten Stück Gestalt an: Die gender-fluide Figur des Ziggy Stardust, die Bowie noch in das nachfolgende Album „Aladdin Sane“, veröffentlicht am 13. April 1973, retten wird, ist ein Alien, das in einer apokalyptischen Welt zum Rock-Superstar aufsteigt, ein visionärer, „aussätziger Messias“. Sein eigener Exzess und die destruktive Hysterie seiner Fans wird sein Ende einleiten. Bowies Kritik an der kultischen Verehrung von Rockstars ist ambivalent: Er benutzt, wovor er warnt – und erntet ganz real, was er in der Fiktion seiner Inszenierung gesät hat. Das Motiv verfolgte ihn: Eine Variation von Ziggy Stardust spielte Bowie wenig später auch in Nicolas Roegs wunderlichem Science-Fiction-Film „The Man Who Fell to Earth“ (1976). 

Nach der doppelten Pop-Offensive der ersten beiden Tracks folgt mit „Moonage Daydream“ jedenfalls der Gegenschlag des Gitarrenrock. Aber auch er ist gegen den Strich gebürstet, queer angelegt: „I’m an alligator / I’m a mama-papa comin’ for you / I’m the space invader / I’ll be a rock’n’rollin’ bitch for you.“ Bowie verwendet, indem er mit Ziggys Stimme singt, futuristisches Vokabular, erzählt von „elektrischen Augen“, „Space-Gesichtern“ und „Strahlenkanonen“. Ein Tagtraum im Zeitalter des Mondes: freak out!

A4. Starman

Im vorletzten Song der ersten Seite geht es weiter zum Jangle-Pop, zum Starman, der den „hazy cosmic jive“ verordnet. Die Absichten des intergalaktisch Reisenden sind arglos: Lasst all die Kinder Boogie tanzen! David Bowies Stilvielfalt ist erprobt: Schon als Teenager studierte er die Gesetze von Blues, Soul und Folk, lernte Pantomime und die Gesangsweisen der Music-Halls. Bowie spielte Theater und in Eiscreme-Werbepots, probierte alles aus, was in seiner Reichweite lag. Für den Umschlag seiner dritten LP, „The Man Who Sold the World“ (1970/71), legte sich Bowie in einem pastellfarbenen Kleid auf ein Sofa, malerisch hingegossen wie eine präraffaelitische Madonna: Ein Hardrock-Album mit Crossdressing-Cover, darauf musste man erst einmal kommen. 

A5. It Ain’t Easy

Das einzige nicht von Bowie selbst, sondern von dem US-Folkloristen Ron Davies verfasste Stück: eine Blues-Rockhymne zur Plattenwendezeit. Der Text bringt Ziggys Dilemma auf den Punkt: Es ist nicht einfach, in den Himmel zu kommen, wenn man gerade am Abstürzen ist. Als Inspiration benutzte Bowie den charismatischen britischen Leder-Rocker Vince Taylor („Brand New Cadillac“), der Mitte der 1960er-Jahre in Alkohol, LSD und religiösen Wahn versackte, sich für eine Kreuzung aus Gott und Alien hielt. Der Dynamismus des klassisch ausgebildeten Gitarristen Mick Ronson, der auch als Arrangeur fungierte, war das Fundament der Spiders from Mars, wie Bowies/Ziggys Begleitband sich nannte. Cockney-Rebel-Mastermind Steve Harley formulierte die Bedeutung von Ronsons Präsenz so: „Das war, als hätte man Igor Strawinsky in seiner Band gehabt.“

B1. Lady Stardust

Seite zwei (B), Song eins (1):  Ein Selbstporträt im Art-Pop- und Cabaret-Format: Einer, dessen Make-up und „animalische Grazie“ fassungslos bestaunt und verlacht werden, singt von Dunkelheit und Schande. Bowie zollt hier seinem Freund Marc Bolan Tribut, beschreibt aber auch Lady Ziggy, die Königin des Sternenstaubs. Wie so viele Lieder dieses frühen postmodernen Albums gibt sich auch „Lady Stardust“ selbstreferentiell, ironisch, eklektisch. Bowie erfreut sich an instabilen Identitäten, an auf den Kopf gestellten Hierarchien. In der Musikpresse hatte er sich, verheiratet und mit Kind, ohne mit der Wimper zu zucken zu seiner Homosexualität bekannt. Was Bowie berührte, wurde hip, sogar seine erotische Ambivalenz. Ein Foto aus jenen Tagen zeigt David Bowie im Kleid, einen Kinderwagen schiebend, neben ihm seine Frau Angela in burschikosem Outfit.

B2. Star

Das Tempo erhöht sich mit diesem Glam-Rock-Knaller, der Ziggys Weltveränderungspläne detailliert, die aus dem Rollenspiel als Rock’n’Roll-Star, aus Transformation und Mutation erwachsen. Die Künstlichkeit des Glam-Pop, der auch Marc Bolan und Roxy Music auf je eigene Weise frönten, stieß die Hippies und Prog-Rockisten der späten 1960er-Jahre vor den Kopf. Ein neuer Nihilismus hatte sich in der Jugendkultur breitgemacht. Bowie wies, geschult auch an der wilden Rock-Theatralik von Iggy Pop und seinen Stooges, bereits auf Punk voraus. In Stanley Kubricks Film „A Clockwork Orange“ (1971), den er liebte, hatte er seine eigene Entfremdung gesehen: zugedröhnte, gewalttätige, aber modisch stilsichere Jugend-Gangs im post-industriellen England. Trostlos, aber sexy, so sollte auch „Ziggy Stardust“ sein.

„Ich hatte damals einen seltsamen psychosomatischen Todestrieb.“

David Bowie

B3. Hang on to Yourself

„Wir bewegen uns wie Tiger auf Vaseline“: Mit solchen Bildern hantiert der Textautor David Bowie in diesem erneut an Marc Bolan orientierten Song, um die Schwierigkeiten von Ziggys Band zu illustrieren. Das „Ziggy Stardust“-Album entstand schnell, es fühlt sich „live“ an, vorangetrieben von Bowies Ungeduld, wie alle daran Beteiligten später zu Protokoll gaben. Mehr als drei Takes pro Song wollte der Meister nicht aufnehmen, danach konnte die Atmosphäre recht plötzlich kippen, wie sich Drummer Woody Woodmansey Jahrzehnte später lachend erinnert.

B4. Ziggy Stardust

Das Titelstück, die Ziggy-Biografie in Kurzform: Stardust spielt die Gitarre linkshändig, genau wie Bowie. Sein Ego droht die Spiders from Mars zu sprengen, aber am Ende erwischt es den Angebeteten selbst: „Screwed-up eyes and screwed-down hairdo / Like some cat from Japan.“ Der japanischen Katze fressen alle aus der Hand; dann wird sie selbst gefressen. Bowies „Ziggy“-Album fusioniert traditionelle Musiken,  Rock und Metal, Soul und Folk. Bowie bediente sich bei Nietzsche und Baudelaire, benutzte Zitate aus Kunst, Literatur und Kino. Er sampelte Ideen, collagierte Gedichte, Mode, Lebensstile. So agiert der postmoderne Songwriter – wham bam, thank you, Ma’am!

B5. Suffragette City

Die Selbstzerstörung rockt. An Kunst und selbstreflexiver Rockmusik war Bowie früh interessiert, auch durch Andy Warhol und Velvet Underground, die er 1971 bei seiner ersten Promo-Tour in New York kennengelernt hatte: Pop ist eine Utopie, ein Spielfeld alternativer Sexualitäten und gegenkultureller Lifestyles. Pop ist offen für alles, sogar für japanisches Kabuki-Theater.

B6. Rock’n’Roll Suicide

Akustisch geht es ins Finale, und  noch einmal wird die „Five Years“-Dramaturgie bemüht: spärlich beginnen, hymnisch enden. Ein Suizid steht an, aber einer mit Empathie und Heilsbotschaft: „Du bist nicht allein! Reich mir die Hände, denn du bist großartig!“ Die Kunstfigur verschmilzt mit ihrem Darsteller, das kann passieren, wenn man seinen Visionen radikal folgt. „Ich hatte einen seltsamen psychosomatischen Todestrieb“, erklärte David Bowie wenige Jahre später – „weil ich mich in Ziggy derart verloren hatte.“ Die Schizophrenie sei zu groß geworden. Ziggy Stardust habe am Ende alles überschattet. 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.