77. Filmfestspiele in Venedig: Triumph der Nomadin im Jahr des Ausnahmezustands
Fast schien es so, als hätte die Jury mit ihrer Entscheidung, zwei konträre, einander auf das Heftigste widersprechenden Filme mit den Hauptpreisen der 77. Mostra auszuzeichnen, ein besonders „integrales“, gleichsam „salomonisches“ Urteil fällen wollen. Als sei es darum gegangen, neben einer weltoffenen, unumschränkt respektablen und ganz ohne künstliche Dramatik auskommenden humanistischen Utopie aus Gründen der ausgleichenden Gerechtigkeit auch ein Spektakel der sinnfreien Gewalt, eine geistig verarmte und ultrazynische Demonstration umfassender Menschenfeindlichkeit zu würdigen. So gewann mit Chloé Zhaos „Nomadland“, einer Tour de force der US-Ausnahmeschauspielerin Frances McDormand, zwar der richtige Film den Goldenen Löwen der Festspiele am Lido, mit „Nuevo Orden“ des Mexikaners Michel Franco dann aber das absolut falsche Werk den Silbernen Löwen als Großen Preis der Jury.
McDormand legte im Festivalfinale eine ihrer virtuosen Performances hin: In „Nomadland“ spielt sie ohne jede Eitelkeit eine in ihrem klapprigen Wohnmobil durch Amerikas Wüstenszenerien reisende Witwe, die sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält. Das zarte Pathos der Regie wird dabei, auch durch Ludovico Einaudis zart-sentimentale Musik, zwar ein wenig überbetont, aber Zhaos halbdokumentarische Annäherung an die kommunale Solidarität nomadisierender Querköpfe machte starken Eindruck. In einem von leidenschaftlich nomadisierenden Laien bevölkerten Film bringen die beiden Understatement-Profis Frances McDormand und David Strathairn es zuwege, sich perfekt einzufügen.
Wo Zhao das Prinzip Menschlichkeit feiert, glorifiziert Franco lupenreinen Weltekel. In „Nuevo Orden“ kommt es zu einem blutigen Aufstand der Armen (und des Militärs) gegen die reiche Oberschicht. Franco, der zweifellos ein handwerklich begabter Regisseur ist, desavouiert im Handumdrehen alle seine Figuren, weidet sich an der eigenen Pseudo-Radikalität, an Folter, Demütigung und Mord – und an der Überzeugung, dass grundsätzlich nur das Schlechteste im Menschen überhaupt denkbar sei. Tiefer als an diesen Punkt sank das diesjährige Kinofest am Lido nie.
Dabei hatte das Festival erklärtermaßen hehre Ziele: Es galt, die „Monokultur des Streamens“ zu überwinden, wie Jury-Präsidentin Cate Blanchett es ausdrückte. Und was wäre der aktuellen Hegemonie des Heimkino-Biedermeier Besseres entgegenzusetzen als die Intensität realer Kinoerlebnisse? Das Filmfest sollte, nach einem halben Jahr Viruskrise und angesichts absehbarer weiterer Komplikationen im kommenden Herbst und Winter, die Lust am kollektiven Filmsehen neu entfachen, auch den weltweit ums Überleben ringenden Kinos Hoffnung spenden. Insofern passte es ins Bild, dass der Branchenführer Netflix heuer abwesend blieb, für den es unter den gegebenen Reiseschwierigkeiten, die Hollywood-Stars fernhielten, hier an Propaganda wenig zu gewinnen gab. Tatsächlich stellte die elftägige Mostra am Lido aber die bang erwartete Rückkehr des Festivalgroßbetriebs dar. Und die Pläne gingen auf: Mit einem Hochsicherheitskonzept, straffer Organisation und stark dezimierten Publikumszahlen brachte man die Festspiele überraschend friktionsfrei über die Bühne. Nun ist Venedig allerdings auch die kleinste der drei wichtigsten Kinogroßveranstaltungen Europas, virusabweisend gelegen im sonnigen venezianischen Spätsommer. Die für den Februar angesetzte, typischerweise nasskalte Berlinale wird es da bedeutend schwerer haben.
Trotz erzwungener Prominenz- und Glamour-Reduktion erwies sich das Programm der 77. Mostra als qualitativ tragfähig. Neben Chaitanya Tamhanes subtiler indischer Charakterstudie „The Disciple“, die den Preis für das beste Drehbuch erhielt, blieben zwei unabhängige Produktionen aus Nordamerika nachhaltig in Erinnerung: Mona Fastvolds von der Jury nicht berücksichtigtes Historienpanorama „The World to Come“ widmet sich dem einsamen Überlebenskampf und der Romanze zweier verheirateter Frauen an der Ostküste, während das ungarische Kreativduo Kornél Mundruczó und Kata Wéber mit „Pieces of a Woman“ eines seiner Theaterstücke in eine ultranaturalistische Studie existenzieller Erfahrungen umbaute. In beiden Melodramen brilliert die junge Britin Vanessa Kirby, die sich mit diesem Doppelschlag in die erste Liga des angloamerikanischen Gegenwartskinos spielte – und für ihre Rolle in „Pieces“ schließlich als beste Schauspielerin dieses Festivals auch die Coppa Volpi erhielt. Als männliches Pendant erkannte die Jury den Italiener Pierfrancesco Favino für seinen Part in dem Film „Padrenostro“.
Ihren Spezialpreis verlieh sie an den ideologisch nicht unumstrittenen russischen Regisseur Andrei Konchalovsky, dessen neuer Film „Dear Comrades!“ den Leidensweg einer kernigen Stalinistin anno 1962 detailliert. Als besten Regisseur zeichnete man den japanischen Genre-Meister und Vielarbeiter Kiyoshi Kurosawa aus, leider für einen seiner schwächeren Filme, für das etwas hölzern-theatralische historische Spionagedrama „Wife of a Spy“. An „The Wasteland“, eine formvollendete Erzählung von Kampf und Resignation der Belegschaft einer archaischen Ziegelei im iranischen Niemandsland, ging der Hauptpreis der „Orizzonti“-Schiene, an einen philippinischen Meister namens Lav Diaz der Preis für die beste Regie.