Abdulrazak Gurnah
Literatur

Literaturnobelpreis für Abdulrazak Gurnah: Schöne weite Welt

Die Stockholmer Jury ist immer für eine Überraschung gut. Der Literaturnobelpreis 2021 geht an den tansanischen Schriftsteller Abdulrazak Gurnah.

Drucken

Schriftgröße

Es sind zuweilen nicht die schlechtesten Entscheidungen, die das Stockholmer Preisgericht trifft. Nach der US-Lyrikerin Louise Glück, die im Vorjahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, erhält mit Abdulrazak Gurnah nun ein weiterer Überraschungskandidat die prestigeträchtige, mit rund 987.000 Euro dotierte Auszeichnung. Mit der Ernennung Gurnahs schiebt die Akademie der Maximierung der Wiedererkennung einen mächtigen Riegel vor – und feiert die Literatur als ein weites Feld der Themen und Formen, das schier endlose Überraschungen bereithält. Im „Kritischen Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur“, dem Standardwerk zur zeitgenössischen Weltliteratur, sucht man den Namen Gurnah vergebens. In einem ersten Telefonat mit einem Mitarbeiter des Nobelkomitees zeigte Gurnah sich verblüfft. Er hatte die Nachricht für einen Streich gehalten, bis er die Verkündung im Livestream sah.

Gurnah, 1948 auf der tansanischen Insel Sansibar geboren, erhält die Auszeichnung, so die Jury, „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten“. Mit J. M. Coetzee wurde zuletzt 2003 ein Autor des afrikanischen Kontinents mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

Gurnah kam Ende der 1960er-Jahre als Flüchtling nach England. Als 21-Jähriger mit Swahili als Muttersprache begann er im Exil auf Englisch zu schreiben. Bis zu einer Emeritierung war er Professor für Englische und Postkoloniale Literaturen – auf der Homepage der University of Kent, Canterbury, ist Gurnahs E-Mail-Adresse noch immer abrufbar. Ins Deutsche übersetzt wurde der Autor zuletzt 2006 mit dem Roman „Die Abtrünnigen“; die wenigen übertragenen Publikationen Gurnahs – wie die Emigranten- und Kolonialromane „Donnernde Stille“ (2000) und „Schwarz auf Weiß“ (2005) – sind vergriffen. Sein Roman „Paradise“ wurde 1994 in die engere Auswahl für den renommierten Booker Prize aufgenommen. 2011 erschien „The Last Gift“.

In einem Interview mit der „Stuttgarter Zeitung“ sagte Gurnah einst, dass Literatur etwas Universelles sei, weshalb er auch nicht darauf achte, die Orte und Kulturen, die westlichen Leserinnen und Lesern vielleicht fremd vorkommen würden, zu erklären: „Als ich mit 15 das erste Mal ,Anna Karenina‘ las, weinte ich, obwohl ich nichts wusste über das Russland des 19. Jahrhunderts. Tolstoi schreibt über menschliche Gefühle, die alle verstehen können.“

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.