George Michael tot mit 53

Abtritt der Poplegenden: Raus aus dem Spiel

Abtritt der Poplegenden: Raus aus dem Spiel

Drucken

Schriftgröße

Man traut sich gar nicht mehr hinzusehen. Eine musikbegeisterte Bekannte teilt in einem sozialen Medium einen körnigen alten Videomitschnitt von Fairport Convention beim Glastonbury Fayre 1971 - und Sekunden später liest man das gefürchtete "RIP" hinter Fiedler Dave Swarbricks Namen. Ein anderer würdigt die psychedelische Frühphase von Status Quo, und prompt entpuppt sich der gute Wille als Tribut an den verstorbenen Rick Parfitt. Und vergangene Woche beschwerten sich Menschen, die sich nie einen Deut um die Musik George Michaels geschert haben, plötzlich online, dass nun wohl "alle behaupten werden, seine größten Fans gewesen zu sein" - und man muss schon wieder mit dem Schlimmsten rechnen.

Die Litanei der Trauernachrichten scheint derzeit nicht abzureißen. Doch das entscheidende Dilemma des Pop 2016 war nicht so sehr der Tod so vieler seiner prägenden Akteure, sondern seine Obsession mit der Sterblichkeit an sich. Wie kommt es, dass eine Musikkultur, die seit ihrem Bestehen so unmittelbar von der eigenen Erneuerung gelebt hatte, so heftig mit der Unersetzlichkeit ihrer alten Helden hadert?

Ein Teil der Antwort liegt wohl in ihrem mittlerweile gut sechs Jahrzehnte zurückreichenden Gedächtnis, ständig aufgefrischt durch die unerschöpfliche Zeitkapsel YouTube und einen unendlichen Strom an Neuauflagen alter Platten. Seit Jahren schon verkaufen sich auf dem Tonträgermarkt Reissues besser als Neuerscheinungen, dementsprechend konzentriert sich auch die - latent existenzbedrohte - Pop-Presse auf Jubiläen großer Meisterwerke und spezielle Gedächtnisausgaben zu Ehren der jeweils jüngsten verstorbenen Ikonen. Der verbliebene Rest der alten Musikindustrie lotet indes die Grenzen der Bereitschaft der Baby Boomer aus, dieselben Songs in immer schöneren und teureren neuen Schachteln zu kaufen. "Mittels endloser Wiederauflagen und ,Luxus'-Verpackungen quetscht die Industrie jeden letzten Tropfen aus ihrem Kapital, während sie sicherstellt, dass das Populäre an der Popkultur, also alles, was daran demokratisch und zugänglich war, verpufft", tobte der britische Journalist John Harris im November im "Guardian" anlässlich des Erscheinens des Pink-Floyd-Box-Sets "The Early Years", das die ersten sieben Jahre der Band auf 27 Discs und einen elitären Verkaufspreis von 435 Euro dehnte. "Das, was einst die Musik des Volkes war", notierte Harris, "wird in ein Abbild des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts und der Kultur der Ungleichheit umgeschmolzen".

Ähnliches hätte man Mitte des 20. Jahrhunderts freilich auch über die Oper schreiben können. Doch die verlangte immerhin lebende Stimmen, um sie stets neu zu interpretieren. Im Pop dagegen zählt nur die originalgetreue Imitation des konservierten Originals - und mit dem Schwinden der Kernmitglieder verschwimmen zusehends die Grenzen zwischen Reunions und Tribute-Bands.

David Bowie

Seit dem Tod von George Michael am Weihnachtstag hat der Mitschnitt einer Probe für das große Freddie-Mercury-Tribute-Konzert 1992 auf YouTube mehr als eine Million Klicks erreicht. Michael war einer der prominenten Gastsänger, die damals für einen Abend im Wembley Stadion in die Fußstapfen des im Jahr davor verstorbenen Mercury treten sollten. Man sieht ihn in Begleitung des verbliebenen Rests der Mercury-Band Queen deren Hit "Somebody To Love" singen - eine gewaltige Performance, die Gitarrist Brian May mit einer Mischung aus sichtbarer Überraschung und Dankbarkeit goutiert. Zwischendurch fängt die Kamera die beeindruckte Miene eines im Hintergrund auf seinen Auftritt wartenden David Bowie ein.

"Where are we now?"

Wenn die frischen Gesichter ihrer inzwischen verblichenen Jugendidole in verschwommener Videoqualität über die Bildschirme flattern, blicken Generationen von Fans der eigenen Vergänglichkeit ins Auge und stellen sich, frei nach David Bowie, die bange Frage: "Where are we now?" Doch die moribunde Perspektive des Pop unserer Tage beruht nicht nur auf persönlichen Sentimentalitäten, sondern auch auf einer Sehnsucht jenseits des eigenen Erlebens. An den sterblichen Hüllen seiner Helden hängt die Tuchfühlung der Nachgeborenen zu einer Zeit, als Pop noch utopische Verheißung war.

Besser noch als das Trauma all der Todesfälle illustrierte dies 2016 eine Zusammenkunft der großen Überlebenden - der "Desert Trip", ein im Oktober von über 150.000 Menschen besuchtes Festival in Kalifornien . In den vergangenen zwei Jahrzehnten hatten Festivalmacher zunehmend ältere Acts als nostalgischen Bonus gebucht, die jüngeren Stars bald die Headliner-Plätze stahlen. "Desert Trip" war nun die logische Konsequenz: The Rolling Stones, Bob Dylan, Paul McCartney. Neil Young, Roger Waters, The Who. Zu einem Mindestticketpreis von 400 Dollar.

Dieses letzte Aufgebot verkaufte sich als "Once in a Lifetime"-Ereignis. Unterschwellig, aber auch makaber unmissverständlich bezog sich der Slogan nicht bloß auf die Lebenszeit des Publikums, sondern vor allem auf jene der Performer. Gnadenloser gesagt: auf die Wahrscheinlichkeit, deren Namen demnächst in den Nachrufspalten lesen zu können. Bezeichnenderweise war bei diesem Auflauf der betagten weißen Männer der Altersschnitt im Publikum um Dekaden weit geringer als der auf der Bühne.

In seinen Memoiren "Die Welt von gestern" schrieb der 1881 geborene Stefan Zweig: "Als ich einmal als Knabe Johannes Brahms vorgestellt wurde und er mir freundlich auf die Schulter klopfte, war ich einige Tage ganz wirr über das ungeheure Begebnis." Schon die "bloße Tatsache seines Ruhms, die Aura des Schöpferischen" habe auf ihn "erschütternde Gewalt" ausgeübt. Als Brahms aus dieser Welt schied, war Zweig gerade 16. Ungefähr so alt wie jene Teenager, die nach dem Tod des heute ebenso glühend verklärten David Bowie die Reissues seiner alten LPs auf ihre Neo-Retro-Plattenteller legten.

Zur Enttäuschung der ewigen Propheten des Vinyl-Revivals sind diese Teenager unter ihren Altersgenossen aber keineswegs die Avantgarde, sondern bloß - wie der junge Zweig - die besonders Beflissenen aus bourgeoisem Hause: eine Jeunesse Musicale, fasziniert vom Nimbus der immer neu auf Hochglanz gebrachten, goldenen Ära des Pop, aber ganz untypisch für die Mehrheit ihrer Generation. Diese konsumiert lieber gratis per Stream zeitgenössischen Pop, dessen Urhebern sie offenbar weniger Relevanz für ihr Lebenskonzept beimisst als ihrer jeweils bevorzugten YouTube-Bloggerin.

Nervenzusammenbruch im Celebrity-Land

Als Kanye West nach den US-Wahlen zum Têteà-tête mit Donald Trump in dessen Tower pilgerte, erntete er dafür zwar jede Menge Häme, aber keine Spur jener Empörung, die einst auf Elvis' verräterischen Handschlag mit Präsident Nixon folgte. Es war bloß ein kleiner Nervenzusammenbruch im Celebrity-Land, und die einst von der Rockkultur beanspruchte Geste der Provokation gehört heute ohnehin den jungen Rechtsextremen.

"I'm leaving the table", sang Leonard Cohen auf dem kurz vor seinem Tod erschienenen Album "You Want it Darker". Und: "I'm out of the game". Wer konnte ihm das verdenken? Doch er hatte nicht recht. Auch wenn die Medien ihn in ihren Nachrufen zum Heiligen verklärten und dann doch Coverversionen seines "Hallelujah" von Leuten mit lieblicheren Stimmen spielten, sind seine Aufnahmen reproduzierbar geblieben. Ob in Boxsets oder bloß gestreamt, seine Lieder werden ihr eigenes Leben weiterführen. Und irgendwann kommt dann aus den Zonen der Verklärung auch der lustvoll verkommene Leonard Cohen der "Death of a Ladies' Man"-Phase an die glatt polierte Oberfläche gekrochen.

Der große Wiener Liedermacher Sigi Maron, der nach seinem Tod im vergangenen Sommer so viel geehrt wurde wie zu seinen Lebzeiten nie, sah dies schon zwei Jahre vor seinem Ableben voraus: "Meine Urne mit der Asche, die wird im Wienerwald begraben", kündigte er an. "Dann können die Fußgänger das nächste Jahr, wenn sie den Wald besuchen, schauen: Kommt der Maron als Eierschwammerl wieder oder als Steinpilz? Könnte auch sein, dass sie ein Schwammerl von wem anderen erwischen und sich denken: Das kann doch nicht der Maron sein, so giftig schmeckt doch ka Schwammerl."