Affäre um Ulrich Seidl: "So noch nicht erlebt"
Die Weltpremiere jener Filmproduktion, die seit gut zwei Wochen für internationale Negativschlagzeilen sorgt, steht dieser Tage an. Am Sonntag soll Ulrich Seidls „Sparta“ beim Filmfestival in San Sebastián zur Uraufführung kommen – wenn das Werk nicht noch in letzter Sekunde das Schicksal ereilt, das ihm vor wenigen Tagen in Toronto blühte: aus dem Verkehr gezogen aufgrund schwerwiegender, die Herstellungsbedingungen des Films betreffende Vorwürfe.
Die Anschuldigungen, die „Der Spiegel“ gegen Seidl erhoben hat (und die im „Falter“ vergangene Woche weitestgehend wiederholt wurden), drehen sich um angeblich „ausgenutzte“ und während des Drehs möglicherweise gefährdete Kinder sowie um die offene Frage, ob deren Eltern über das Filmthema (Pädophilie) Bescheid gewusst haben. Seidl selbst bestreitet diese Vorwürfe vehement, er habe für durchgehende Betreuung und Vertrauenspersonen am Set gesorgt, und auch die Filminhalte seien an alle Beteiligten und die Kinder der Eltern im Vorfeld kommuniziert worden.
Kollateralschäden der laufenden Affäre sind bereits spürbar. Nicht nur hat ein deutscher Koproduktionspartner der Seidl-Film sein Misstrauen signalisiert, was künftige Kooperationen angeht, vor wenigen Tagen wurde dem Regisseur nun auch der Douglas-Sirk-Preis aberkannt, der ihm am 5. Oktober im Rahmen des Filmfests Hamburg verliehen hätte werden sollen. Nach San Sebastián wird Seidl nicht reisen, er hat bereits vor zwei Wochen beschlossen, dass er abgesehen von einem langen Statement zur Causa, das er auf der Website seiner Produktionsfirma veröffentlicht hat, vorläufig zu den Vorwürfen nichts weiter sagen will.
profil hat einstweilen weitere Mitglieder des Filmteams nach ihren Beobachtungen während der Dreharbeiten befragt. Steven Swirko, der den „Sparta“-Dreh als Produktionsleiter begleitet hat, war bereits bei den Filmvorbereitungen und Castings dabei: „Keine Filmproduktion hätte zu diesem Zeitpunkt bereits den vollständigen Inhalt eines Films kommuniziert“, berichtet er im profil-Gespräch. „Seidl erklärte jedoch den Eltern der Kinder, die er besetzen wollte, seinen Film sehr genau. Die Eltern wussten, worauf sie sich einließen. Den Kindern haben wir ihn nicht erklärt, weil sie beim Dreh davon nie direkt betroffen waren.“ Denn in „Sparta“ passiere „alles im Inneren der Hauptfigur“. Er sei die gesamte Drehzeit über am Set gewesen, sagt Swirko. Es sei „absolut nicht korrekt, zu behaupten, dass zwei, wie sie in den Medien genannt wurden, ‚Kindergärtnerinnen‘ nur sporadisch dabei gewesen seien. Die beiden Betreuerinnen waren jeden Tag vor Ort. Bei den Außendreharbeiten, die größtenteils bei den wirklichen Wohnhäusern der Kinder stattfanden, waren stets die Eltern anwesend.“ Es stimme schlicht nicht, „dass wir uns schlecht um die Kinder gekümmert hätten. Selbst bei Fahrten und Abholungen zu den Drehorten legten wir einen kleinen Kreis von Vertrauten fest.“
Auch den im „Falter“ geschilderten Fall eines fiebernden Kindes, das am Set angeblich sorglos abgelegt worden sei, hat Swirko anders in Erinnerung: „An einem der Drehtage begann ein Kind zu fiebern. In einem Raum der von uns angemieteten Örtlichkeiten befand sich eine Arztpraxis, die wir ebenfalls nutzten. Die sich dort befindende Liege war jedoch bretthart. Stattdessen verwendeten wir dort vorhandene, weichere Sportmatten, die wir zusätzlich polsterten. Wir legten das Kind also nicht, wie berichtet wurde, einfach auf einen Kleiderhaufen! Nicht erwähnt wurde auch, dass wir dieses Kind dann zum Arzt brachten, was der Familie selbst gar nicht möglich gewesen wäre, weil sie kein Auto hatte und auf dem Land wohnte. Das Kind bekam vom Arzt Medikamente. Die Familie hat sich herzlich bei uns bedankt, weil wir uns so gut um das Kind gekümmert hätten.“
Der Darstellung schließlich, dass bei den Dreharbeiten ein mit Kindern vollbesetztes Auto in einen Unfall verwickelt gewesen sei, widerspricht Swirko ebenfalls: „Das Auto, so heißt es, sei in einen Betonpfosten geprallt und anschließend außer Kontrolle geraten. Nein: Hauptdarsteller Georg Friedrich fuhr auf einer Wiese, die wir eigens gemietet hatten, bei Starkregen im Kreis. Mit dem Hinterrad touchierte er dabei das halbverrostete Metallgestänge einer in den Boden gesteckten Wäscheleine. Im hinteren Bereich des Wagens war ein kleiner Blechschaden die Folge. Friedrich hatte keine Sekunde lang die Kontrolle über das Fahrzeug verloren.“
Die Editorin Monika Willi, Mitarbeiterin Michael Hanekes seit über zwei Jahrzehnten, hat auch Seidls Brüderfilme „Rimini“ und „Sparta“ geschnitten; als eine längst international gefragte Künstlerin hat sie buchstäblich Jahre damit verbracht, grob geschätzte 100 Stunden an Bild- und Tonmaterial allein von den Dreharbeiten zu „Sparta“ zu bearbeiten – es zu sichten, zu ordnen und zu schneiden. „Als Editorin“, sagt Willi im Gespräch mit profil, „kenne ich natürlich alle Vor- und Nachläufe der einzelnen Aufnahmen, daraus kann ich ableiten, wie der Dreh atmosphärisch verlief. Ich habe da nichts Verdächtiges gesehen; es gibt keinerlei sexualisierte Szenen, und was gespielte ‚Gewalt‘ betrifft, so hatte ich gerade angesichts einer Szene, in der die Väter das Jugendcamp stürmen, um ihre Kinder zu maßregeln, große Mühe, dies plausibel hinzukriegen, weil es dermaßen fake aussieht. Da hat niemand wirklich zugelangt.“
Das Weinen eines Buben während einer Szene kommentiert Monika Willi so: „Es ist eine große Kunst, Tränen fließen zu lassen, Emotionen zu mobilisieren, auch bei Kindern. Das ist einfach schauspielerisches Vermögen. Und der Bub im Zentrum von ‚Sparta‘ ist ein großartiger Schauspieler. Das bewies er auch in anderen Situationen, er hob sich darin deutlich von den anderen Kindern ab.“
Zu viel Druck der Regie auf die Kinder habe sie nicht wahrgenommen: „Nein. Ich kenne die Stimmung am Set durch das Material. Da ist nichts Auffälliges, nichts Bedrohliches, nichts Bedenkliches. Das ist ein Haufen wilder Buben, die natürlich manchmal im Zaum gehalten werden mussten, wie bei einem Kindergeburtstag. Bisweilen muss man da ‚Stop!‘ rufen und Regieanweisungen treffen.“ Auch Kinderbetreuungspersonen seien in dem Material häufig sichtbar. „Schon wegen der Sprachbarriere mussten diese durchgehend anwesend und für die Buben verfügbar sein.“
Serafin Spitzer, der während des Sommerdrehs von „Sparta“ fünf Wochen lang hinter der Kamera gestanden war (er hatte von Wolfgang Thaler übernommen, der – wie berichtet – den Job wegen Terminkollisionen nach dem Winter abgeben musste), erklärt auf profil-Anfrage, man habe, um größtmögliche Konzentration und Kamera-Bewegungsspielraum zu gewährleisten – und auch die Kinder vor zu viel Publikum zu schützen –, mit einem bewusst kleinen Team gedreht, nur die jeweils nötigen Kräfte zugelassen. Spitzer gibt vorab Grundsätzliches zu Protokoll: „Ich spreche hier nicht, um Ulrich Seidl zu verurteilen, bin aber auch nicht in der Position, ihn zu verteidigen.“
Und er erklärt diese Äquidistanz so: „Den Satz ‚Man kennt die Arbeitsweise von Ulrich Seidl‘ hört man derzeit oft. Nur: Niemand außer ihm selbst kennt die Gesamtheit aller Arbeitsvorgänge, die zur Herstellung seiner Filme führen. Dies wissen sowohl seine entferntesten als auch seine engsten Mitarbeiter:innen. Meine Position als Seidls Kameramann beim Sommerdrehblock von ‚Sparta‘ bedeutet also nicht, dass ich in alle Vorgänge eingeweiht wurde.“ Die Kamera sei Teil der Inszenierung; „Ich habe den szenischen Inhalt oft zum ersten Mal beim Drehen erlebt, musste in der Situation auf die Ereignisse reagieren.“
Spitzer berichtet über die erschwerten Drehbedingungen im sommerlichen Rumänien: „Es war für mich körperlich sehr, sehr fordernd. Bei meist 40 Grad, in der Sonne, die 18 Kilo schwere Kamera immer auf der Schulter, bei Takes, die oft ein ganzes Magazin, also 40 Minuten lang in Anspruch nahmen, erlebte ich die vielen Situationen hauptsächlich durch den Sucher.“ Er habe stets in der Annahme gearbeitet, „dass alle Mitwirkenden über das Vorhaben gut aufgeklärt seien und wüssten, auf welche Extremsituation sie sich einließen“.
Grenzen seien individuell verschieden, und er sei „davon ausgegangen, dass auch darauf individuell eingegangen wurde. Ob diese Annahme berechtigt war, weiß ich nicht, aber ohne dieses Vertrauen in die Regie könnte ich meine Arbeit nicht machen. Es war mir gar nicht möglich, je in eine Beobachterrolle außerhalb der Arbeit zu gelangen. Im Nachhinein beschäftigt mich das sehr.“
Um Seidls Methode zu erklären, erscheint Spitzer eine Tatsache wesentlich: „Das Set, also der Schauplatz der Dreharbeiten, war sehr stark abgetrennt, sozusagen durchgehend ‚segregiert‘. Im künstlerischen Sinn ist die Teilung aller der an der jeweiligen Szene beteiligten Personen vom Rest des Teams ein legitimer Bestandteil von Seidls Arbeitsweise. Dass wir als Team abseits des Drehs jedoch, was unseren Informationsstand betraf, auch immer getrennt bleiben sollten, habe ich als Kameramann so noch nicht erlebt.“
Der Mangel an Information, mit dem Seidl arbeitet, habe ästhetische Gründe, aber eben auch Schattenseiten: „Die Tatsache, dass kein Teammitglied den gesamten szenischen Inhalt kannte und selbst nach Ausschalten der Kamera niemand darüber sprechen durfte, führte zwangsläufig zu unterschiedlichen und stark eingeschränkten Wahrnehmungen.“ Darum sei es für ihn „heute schwer zu bestimmen, welche Vorwürfe tatsächlich stimmen. Ich hoffe, dass die langwierige und schwierige Aufklärung dieser Vorwürfe in Zukunft nicht ausschließlich auf medialen Bühnen stattfindet und mit der gleichen Qualität geschieht wie die künstlerische Arbeit.“
Eines sei ihm jedenfalls im Nachdenken über diese Arbeitsweise „noch einmal klarer geworden: Welche unglaubliche Macht in unserer Branche bei Regie und Produktion liegen kann, was sich durch die Trennung am Set noch deutlich verstärkt. Über diese grundsätzlichen Machtverhältnisse müssen wir als Branche nun auch sprechen. Sollten sich Vorwürfe bezüglich des Casting-Prozesses und der Betreuung der Kinder abseits meiner Wahrnehmung bewahrheiten, würde mich dies sehr betroffen machen.“