Albtraumkino: Jonathan Glazers Holocaust-Vision „The Zone of Interest“
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Sommerliche Stimmung, Vater, Mutter, fünf Kinder und ein Traumhaus mit Obstbäumen, Blumengarten, Bienenstöcken, Swimmingpool. Doch hinter der hohen Mauer zum Gelände nebenan endet das Pseudo-Paradies. Ein bisschen Rauch und ferner Lärm dringen in den Garten, eine undefinierbare Mischung aus Schleifen, Klirren, Dröhnen, Bellen und Geschrei: industrielles Hintergrundrauschen.
Die Störsignale sind nötig, denn der Familienvater ist kein argloser Hausherr, sondern eine historische Täterfigur, dessen Geschichte hier anschaulich wird: Er heißt Rudolf Höß, und er arbeitet als Kommandant des NS-Konzentrationslagers in Auschwitz-Birkenau, Mit Frau und Kinderschar bezog er ein direkt an das KZ grenzendes Eigenheim, um dort Familienidylle zu spielen, während er den Todesbetrieb auf der anderen Seite ungerührt aufrechterhielt.
Die Haushälterinnen und Kindermädchen, die durch die Bilder dieses Films huschen, sind – wie schnell deutlich wird – jüdische Zwangsarbeiterinnen, die ihrem Tagwerk in ständiger Lebensgefahr nachgehen müssen, woran sie Hedwig Höß, die Frau des Kommandanten, bei schlechter Laune gerne auch erinnert. Und im Zuge einer Zusammenkunft der Arbeitskollegen ihres Mannes diskutiert man im Büro des Anwesens in aller Ruhe und mit viel technischem Know-how noch effizientere Vernichtungsmethoden. Der Film, inszeniert von dem Briten Jonathan Glazer, trägt einen sachlichen Titel: „The Zone of Interest“.
Das Ungeheuerliche
Warum sollte man einen solchen Film sehen? Was hätte er, die Welt aus dem Blickwinkel der Täter betrachtend, uns mitzuteilen? Viel mehr als das, worauf er sich zu beschränken scheint: Er findet nämlich, gerade indem er die „übliche“ KZ-Ikonografie vermeidet, ganz neue Bilder und Töne für die massive Verdrängung, die den Holocaust erst ermöglichte, für all die fadenscheinigen Selbstrechtfertigungen. „The Zone of Interest“ ist eine Vision von geradezu ungeheuerlicher Transparenz, die aus der Vermeidung alles Naheliegenden entsteht: Sie bietet keine Nachstellungen des Lageralltags an, keine Leichenberge und keinerlei Sentimentalität. Er argumentiert anders.
In wiederkehrenden, fiebertraumhaften Szenen, die mit Wärmebildkamera hergestellt wurden, visualisiert er beispielsweise das Unbewusste der vom Leben an der Lagermauer psychisch versehrten Höß-Kinder – wie Seelenröntgenaufnahmen. Die alten Maschinerien des Historienkinos sind außer Betrieb gesetzt, die eisernen Regeln des Industrie-Spielfilms ausgehebelt. Es wird nicht im klassischen Sinn erzählt in „The Zone of Interest“, die Dialoge vermitteln keine „Einsicht“ in die Figuren, und die Dramaturgie folgt keinem Spannungsbogen. Es wäre jedoch ein Fehler zu glauben, dass im Kino zwangsläufig Ödnis herrschte, nur weil man nicht an der Hand genommen wird, von einer Story-Station zur absehbaren nächsten, von einem Argument zum anderen begleitet wird. Im Gegenteil: Erst die Abwesenheit konventioneller Vermittlungsmethoden öffnet den Blick und das Gehör für die historische Zäsur, für den Epochenbruch, von dem in diesem Film die Rede ist und vor dessen Repräsentationsproblemen das Fernsehen und das Mainstream-Kino längst kapituliert haben.
Ein Feuerkreis
Denn „The Zone of Interest“, ausgezeichnet 2023 in Cannes mit dem Großen Preis des Festivals, wagt es, an den Rand jenes Feuerkreises zu treten, den Claude Lanzmann, der Regisseur des Filmmonuments „Shoah“ (1985), einst ausgerufen hat: Denn man könne der systematischen Vernichtung, die (nicht nur) in Auschwitz vollzogen wurde, mit den Mitteln eines Spielfilms niemals gerecht werden. Über Lanzmanns Dogma haben sich zahllose kommerzielle Film- und Fernsehprojekte hinweggesetzt, von der amerikanischen Miniserie „Holocaust“ (1978) über Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ (1993) bis zu Roberto Benignis „Das Leben ist schön“ (1997), stets mit dem Argument, man müsse die Dinge eben ein wenig trivialisieren, um die Erinnerung an das Unbeschreibliche breitenwirksam wachzuhalten. Besser, die Nachgeborenen setzten sich mit einer verkitschten – und damit viel leichter annehmbaren – Version der tatsächlichen Ereignisse auseinander als gar nicht.
Doch die Simplifizierung verstellt die Sicht auf die Grundlagen des Terrors. Neben der Wissenschaft hat nur die Vieldeutigkeit der Kunst die Kraft, eine Ahnung davon zu vermitteln, wie es dazu kommen konnte, dass ganz „gewöhnliche“ Menschen, all die Amtsträger, Durchschnittsbürgerinnen und Biedermänner mit solcher Euphorie an einem kollektiven Blutrausch, einem Völkermord dieses Maßstabs teilgenommen haben. Dahinter verbirgt sich die von Hannah Arendt gebrandmarkte „Banalität des Bösen“, das Alltägliche der Gewissenlosigkeit.
Auch deshalb setzt der Londoner Filmemacher Jonathan Glazer in „The Zone of Interest“ (seit gestern österreichweit zu sehen) auf immersives Kino, lässt sein Publikum abtauchen in ein infernalisches Universum, eine vergiftete Atmosphäre, an der jedes Detail entscheidenden Anteil hat. Das beängstigend detaillierte, dennoch stets mehrdeutige Sound-Design hat „Nope“- und „Poor Things“-Tonmeister Johnnie Burn in aufwendiger Konstruktionsarbeit gestaltet.
Die Bilder schwelgen in pastellenen Farben, als hätte man sie auf Agfacolor-Material gedreht (an der Kamera: der polnische Bildvirtuose Łukasz Żal), wie eine der todessehnsüchtigen Kinoopern des NS-Melodramatikers Veit Harlan. Aber Nazikitsch liegt Glazer fern. Experimentelle Einschübe und dokumentarische Nebenlinien brechen in die Alltagsszenen ein. Die Figuren bleiben auf Distanz, stehen unter Beobachtung, wie von Überwachungskameras beäugt. Christian Friedel spielt Höß als weichen Opportunisten, während Sandra Hüller die Kommandantengemahlin als egomanisch verhärtete Matrone anlegt. Als Hedwig Höß lässt sie mit erschreckender Selbstverständlichkeit und kaltem Understatement in die kaum fassbare Fühllosigkeit einer die Massenvernichtung in der Todeszone vis-à-vis ignorierenden Frau blicken.
Seinen Lebensunterhalt bestreitet Glazer mit Werbefilmen und Musikvideos, er hat Spots für Bier, Sneaker und Tech-Konzerne gedreht und Clips für Bands wie Massive Attack, Blur und Radiohead. Im Kino macht sich Jonathan Glazer, 58, dagegen rar. Tatsächlich hat er in den vergangenen 25 Jahren lediglich vier Spielfilme inszeniert. In Spanien entstand im Sommer 1999 sein Kinodebüt, die ebenso stilsichere wie lustvoll-unflätige Gangster-Satire „Sexy Beast“, in der Ray Winstone als Crime-Aussteiger auf einen von Ben Kingsley mit Gusto gespielten Soziopathen trifft, der Ersteren zu einem letzten Bankraub zwingen will. Aus dem sehr diesseitigen Machismo-Universum dieses Regie-Erstlings bewegte sich Glazer 2004 weiter in die Paranormalität eines weiblich dominierten Reinkarnationsdramas namens „Birth“, getragen von den Filmstars Nicole Kidman und Lauren Bacall. Konsequenter in die Gefilde des avantgardistisch erweiterten Leinwandhorrors drang Glazer fast zehn Jahre später ein: In „Under the Skin“ (2013) ließ er eine extraterrestrische Männermörderin in der trügerischen Gestalt Scarlett Johanssons durch Schottland reisen.
Darin erforschte Glazer erstmals die filmischen Gestaltungsspielräume in der Darstellung seelischer Erschütterung – und die Möglichkeiten reduzierter Narration; in die klaffenden Leerstellen eines Logik und Drama konsequent verweigernden Kinos füllte er einen abstrakten Futurismus, schon damals begleitet von einem der beunruhigenden Soundtracks Mica Levis. Mit „The Zone of Interest“ gehen Glazer und Levi nun einen wesentlichen Schritt zurück – und zugleich weiter: von den Luftschlössern der Science-Fiction in die Schreckenshistorie des Holocaust, vom Fantasierten ins Dokumentierte, vom makabren Gedankenspiel zum tödlichen Ernst des Zivilisationsbruchs.
Zurück in die Zukunft
Es wäre fast schon eine Übertreibung zu behaupten, Martin Amis’ Buch „Interessengebiet“ sei die Romanvorlage zu Glazers Arbeit; denn mit dem Werk des – just am Tag der Weltpremiere des Films bei den Festspielen in Cannes im vergangenen Mai 73-jährig verstorbenen – Schriftstellers hat die Kinoproduktion allenfalls am Rande zu tun (siehe dazu auch Kasten links). Amis hatte sich in seinem ungleich berühmteren, mit umgekehrtem Zeitvektor erzählten Roman „Time’s Arrow“ (1991) schon einmal mit dem Holocaust befasst. Glazer reduziert die in „Interessengebiet“ dreifache Erzählperspektive auf eine Person, streicht den sarkastischen Tonfall und nennt Höß, anders als Amis es tut, beim Namen.
Obwohl der Film in Cannes 2023 den Großen Preis der Jury, fünf Oscar-Nominierungen und überwiegend hymnische Kritiken erhielt, regte sich in manchen Feuilletons auch Widerspruch gegen „The Zone of Interest“. Manohla Dargis etwa, Chefkritikerin der „New York Times“, sah in Glazers Arbeit bloß „eine hohle, selbstverherrlichende Kunstfilmübung“, die großen Wert auf Distinktionsgewinn lege, sich als „raffinierte Qualitätsarbeit“ begreife, um sowohl dem Regisseur als auch seinem Publikum „zu schmeicheln“.
Doch dazu ist die Inszenierung zu wenig gefällig. „The Zone of Interest“ erregt nicht Wohlgefühl, sondern Übelkeit. Am Anfang und am Ende stehen Schwarzfilm und Mica Levis unheilvolle Musik. Die Finsternis und der alarmierende Klang gelten nicht mehr nur der Geschichte, aus der sie kommen, sondern auch uns, hier und jetzt – den Verwerfungen der Gegenwart.
Stefan Grissemann
leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.