Die turbulente Lebensgeschichte eines Wiener Kellners
Hans Gamliels Brille verdunkelt sich im Sonnenschein. Der kahle Kopf ist unter der Kappe versteckt, das Gesicht gebräunt. Es fehlte bloß die Pfeife, und er könnte als Märchenonkel durchgehen, der zwei Versionen ein und desselben Märchens erzählte: Hans im Glück – Hans im Unglück.
Es ist einer dieser langen Sommertage. Ein Terrassen-Café am Ufer des Bodensees im schweizerischen Rorschach. Gamliel, 76, spricht mit heiserer Stimme. Er kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Bringt er eine Episode ohne viele Abschweifungen, die ihn mühelos über Jahrzehnte und Kontinente springen lassen, auf den Punkt, wirkt er kurz wie ein Magier, dem ein Zaubertrick geglückt ist. Die Fingerknöchel sind weiß, so fest klopft er immer wieder auf den Tisch, der dann wackelt. In gewisser Weise ist er der emsige Kustos im Museum seiner eigenen Vergangenheit.
Gamliels Leben weist einen Knick auf. Seine Biografie illustriert, wie die aufkeimende Idee eines vereinten Europas durch Faschismus und Stalinismus zerschlagen wurde. Gamliel hat als Chefkellner in über 30 Luxushotels und Restaurants, die meisten davon in der Schweiz, einen reichen Anekdotenschatz zusammengetragen. Er diente seinem Metier mit Stolz und Stoizismus, manchmal vielleicht zu dick aufgetragener Galanterie, als der Tourismus noch Fremdenverkehr und der Urlaub Sommerfrische hieß.
Erstaunliches Erinnerungsvermögen
„Ich habe mindestens Gott und die Welt bedient“, sagt er. Vielen seiner Sätze ist anzuhören, dass Gamliel sie nicht zum ersten Mal sagt. Er hat seine Geschichte sogar niedergeschrieben. „Wien, 2. Bezirk, Tempelgasse Nr. 3“, so hat er seine Memoiren, zwei mit Klammern gebundene Hefte, genannt. Man könnte keinen passenderen Titel finden: Gamliel hat in seinem Kopf ungezählte Namen, Straßennamen, Hausnummern, Automarken, Lebensläufe, Sterbedaten, Jahreszahlen, Stichtage parat. Er weiß, wie hoch 1961 sein Grundgehalt als Kellner war (40 Franken), wie er den Retourgang seines ersten Autos in Position wuchtete (Ford Anglia, Rückwärtsgang vorne links).
Die Gamliels sind echte Wiener. Der Urgroßvater stammt aus Bulgarien, die Urgroßmutter aus Thessaloniki, zu Hause spricht man bulgarisch, griechisch, türkisch, serbisch, französisch, deutsch. Gamliels Großvater ist Teilhaber einer Klavierfabrik, die Großmutter Konzertpianistin. Der Nationalsozialismus zerschlägt das Idyll.
„Dann kam das Jahr 1938“, notiert Gamliel in seinen Erinnerungen, in denen er über seinen Clan in der dritten Person schreibt, wie er auch gern über sich selbst spricht: „Sie waren urplötzlich für viele ihrer Freunde und Bekannten die Juden geworden. Sie wurden mit antisemitischen Parolen bedacht und angepöbelt. In Österreich nahmen die Judenverfolgung und die Arisierungen immer größere Ausmaße an, und mit der Reichskristallnacht war ihre Abreise aus Österreich beschlossen.“
Und, fragt Gamliel am Bodenseeufer: „Was machte der Gamliel Hans?“
Er sei, sagt er, „hitlerbedingt“ 1940 im damaligen Jugoslawien auf die Welt gekommen. „Meine Mutter war hochschwanger aus Wien geflüchtet. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, meine Schwester wurde 1942 in einem Belgrader Gefängnis geboren, als wir an der Grenze festsaßen.“ Außer der Mutter und der Großtante wurden alle Wiener Verwandten in Treblinka ermordet, von der Großmutter über die Zwillingsgeschwister bis zur Zweijährigen. „Ein Bruder der Mutter trank verseuchtes Wasser und durfte an Typhus sterben. Er musste gottlob nicht ins Gas.“
Bewegte Kindheit
Ab 1946 lebt Hans mit seiner Schwester Erika und der Mutter sieben Jahre lang in einem Zimmer im jüdischen Obdachlosenheim in der Wiener Tempelgasse. In der Gemeinschaftsküche gibt es zwei Gasherde mit fünf Flammen, in der Kammer der Gamliels keine Heizung, kein Wasser, kein Klo. Beim Einkaufen ist man auf Lebensmittelkarten angewiesen. Die Gamliels sind keine besonders religiöse Familie, man vertraut mehr auf das zupackende Wesen der Mutter als auf Gott. „Mame“ nennt Gamliel die Mutter bis heute auf Jiddisch. Hans wird bald für ein Jahr in die Schweiz zu einer Patenfamilie verschickt. Er erinnert sich: „Die Gradwohls waren sehr religiös. Ich sollte eines Tages in der Badewanne gewaschen werden. Als Frau Gradwohl mich nackt sah, wich sie mit einem spitzen Schrei zurück. Sie fragte mich schroff, ob ich Christ oder Jude, weshalb um Himmels willen ich nicht beschnitten sei. Ich verstand nicht, was sie von mir wollte. Frau Gradwohl sandte ein Telegramm an meine Mutter. Die Antwort kam postwendend: Mame schrieb, auf welcher Gestapo-Stelle sie den Antrag zur Beschneidung ihres Sohnes auf der Flucht denn hätte stellen sollen. Die Prozedur wurde im jüdischen Spital zu Basel vollzogen.“
Nach dem Krieg tritt die Mutter in die Kommunistische Partei ein. „Stalin war für sie der Befreier vom Hitler-Faschismus.“ Einer von Gamliels Verwandten emigrierte früh nach Russland und überlebte Stalins Regime. Später wechselt die Mutter zu den Sozialisten über. 1953 übersiedelt die (nach einem Lieblingswort Gamliels) „Mischpoke“ in eine Gemeindewohnung im Südwesten Wiens. „Die Mutter fiel fast in Ohnmacht, wie vom Blitz getroffen rief sie: ,Was machen wir bloß auf 56 Quadratmetern?‘“
In seinem zweiten, glücklicheren Leben als Kellner sammelte Gamliel Begegnungen mit berühmten Zeitgenossen: Bruno Kreisky, Jerry Lewis, Robert Mitchum, Birgit Nilsson, Jochen Rindt, Oskar Werner, Kurt Waldheim, Simon Wiesenthal, John Huston, Josephine Baker, Roy Black. Königin Margrethe von Dänemark musste wegen Überbuchung mit einem Zweiertisch vorliebnehmen: „Sie sah mir nur auf die Stirn, nie in die Augen.“ Eine stadtbekannte Soubrette, die öffentlich ihre Treue zum Ehemann schwor, traf sich im Restaurant mit wechselnden Männern. Der Totschläger und Zuchthäusler Heinz Sobota ließ den besten Cognac servieren und warf mit Trinkgeld um sich. Die sturzbetrunkene, stets mit Zobelpelz gewandete Frau des Schauspielers Peter Ustinov bugsierte Gamliel Abend für Abend in ihr Appartement. Den Handküssen aus Dankbarkeit entzog er sich diskret. Für Friedrich Dürrenmatt tippte er Manuskripte nach Feierabend, und Roberto Blanco weihte Gamliel in das Geheimnis ein, weshalb seine Schallplatten um 50 Pfennig teurer seien als jene von Peter Alexander: „Ich singe bis zum Loch.“
Seine Mutter, macht Gamliel einen letzten Gedankensprung, habe nie gern über die schwere Zeit gesprochen. „Ich verstand als Kind nicht, weshalb sie immer sagte, sie beneide jeden Menschen, der sich an einem Grab ausweinen dürfe.“ Seine Geschichte soll eine Art Grabstein sein.