Zeitgeschichte

Als der Dramatiker Arthur Schnitzler mit Bundeskanzler Ignaz Seipel stritt

Herbert Lackner setzt seine kleine Kulturgeschichte Österreichs fort. Im neuen Buch des ehemaligen profil-Chefredakteurs prallen Poeten auf Politiker.

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Ein Sturm zog auf. Mit Stöcken und Schlagringen drangen die Randalierer in die Kammerspiele ein, in das Theater in der Wiener Roten-turmstraße; der Mob sprengte die Aufführung von Arthur Schnitzlers „Reigen“. Die pikanten Erotika, die am Abend jenes 16. Februar 1921 angeblich auf offener Bühne zu sehen waren, lieferten den Vorwand für das antisemitische Wüten. Der jüdische Dramatiker, der sich durch den Hinterausgang des Theaters vor der christlich-sozialen und deutschnationalen Horde retten konnte, notierte später in seinem Tagebuch: „Das Publikum flieht auf die Bühne. Bänke und Sessel aus den Logen heruntergeworfen. Das Gesindel tobt.“

Die Nazis „überhitlern“

Der Schriftsteller geriet in historische Zusammenhänge. „Es ist das Wetterleuchten vor einem katastrophalen Unwetter, das sich mehr als ein Jahrzehnt lang zusammenbrauen wird, um sich danach umso gnadenloser zu entladen“, schreibt Herbert Lackner in „Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt“, seiner jüngsten kulturhistorischen Erkundung. Bei Lackner, 73, fallen zwei Passionen aufs Vorteilhafteste ineinander: Der langjährige profil-Chefredakteur und promovierte Politikwissenschafter ist ein Freund klarer Worte, den die Zeitgeschichte nicht loslässt.

„Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt“ bildet gemeinsam mit „Die Flucht der Dichter und Denker“ (2017), „Als die Nacht sich senkte“ (2019) und „Rückkehr in die fremde Heimat“ (2021), Lackners Bücher zur jüngeren Austro-Historie, ein Epochen-Lesebuch mit erhellenden Recherchen. Die Bände fügen sich zu einem Zeitbild – von der aufkommenden NS-Diktatur über die Emigration der Intellektuellen bis in die von Nicht-Erinnern-Wollen vergiftete Nachkriegszeit hinein.

„Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt“ spannt einen Bogen über 100 Jahre Kulturkonflikte hinweg: 1925 ermordete ein Nazi den Journalisten Hugo Bettauer („Stadt ohne Juden“); als die Tänzerin Josephine Baker 1928 nach Wien kam, läuteten im Bezirk Wieden die Kirchenglocken, um angesichts derartiger Frivolität Hilfe von oben zu mobilisieren; am 30. April 1938 loderten in Salzburg Bücher auf Scheiterhaufen; 1951 bezeichnete das Unterrichtsministerium Max Ophüls’ „Reigen“-Verfilmung als in „sittlicher Hinsicht frivol und zersetzend“. Die Mistfuhre 1988 zur „Heldenplatz“-Premiere; das FPÖ-Plakat im Wiener Landtagswahlkampf von 1995: „Lieben Sie Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann, Pasterk … oder Kunst und Kultur?“ O je, du mein Österreich!

Lackner erzählt die große Geschichte in kleinen Geschichten, die sich immer wieder zu einem Ganzen fügen. Er umreißt eine Welt, in der Gesinnungsterror Alltag war und den Juden Wiens, Jahrzehnte vor Hitlers Machtergreifung, Hass und Hetze entgegenschlugen. Der Dollfuß-Adorant Odo Neustädter-Stürmer gab die Parole aus, man müsse die Nazis „überhitlern“, treudeutscher und nationalistischer als diese selbst werden.

Weniger bekannt dürfte sein, dass Schnitzler nach den Tumulten in den Kammerspielen ins Wiener Bundeskanzleramt geladen wurde – gemeinsam mit Robert Musil, Joseph Roth und Hermann Broch sowie dem Komponisten Alban Berg. Hintergrund der politischen Charmeoffensive im Juni 1928: Österreichs Bundesregierung unter Kanzler Ignaz Seipel, dem Mann im ewigen Dominikaner-Habit, wollte den „Kampf gegen Schmutz und Schund“ verschärfen – und Österreichs Kulturschaffende in einer Parallelaktion persönlich von der Notwendigkeit eines solchen Gesetzes überzeugen. Noch 1921 hatte Seipel Schnitzlers „Reigen“ als ein „Schmutzstück aus der Feder eines jüdischen Autors“ verunglimpft. Die Künstler im Metternich-Saal erwiesen sich als unwillige Polit-Komplizen: Schnitzler stritt mit Seipel. „Die Explosion liegt in der Luft“, berichtete ein Anwesender. Der geschlossene Widerstand zeigte Wirkung: Die Regierung unternahm keinen weiteren Versuch, das „Schmutz- und Schundgesetz“ zu eskalieren.

Duzfreund des Diktators

Den Lebenslauf einer zentralen Dunkelfigur dieses Landes beleuchtet Lackner ebenso gründlich. Der Wiener Anwalt Walter Riehl (1881–1955) gründete den österreichischen Zweig der NSDAP: „Riehl war bereits Nationalsozialist, als Adolf Hitler noch in einer zerschlissenen Soldatenuniform aus dem Weltkrieg ziellos durch München irrte“, schreibt Lackner. Der Jurist mit Kanzlei am Wiener Stephansplatz, ein Duzfreund des Diktators, verteidigte unentgeltlich Otto Rothstock, den Mörder Hugo Bettauers. Nach dem Freispruch eröffnete Rothstock mit Riehls finanzieller Unterstützung eine Dentistenpraxis. Noch 1977 rühmte sich Rothstock im ORF der „Auslöschung“ Bettauers.

Im Juli 1927 verteidigte Riehl drei Aufhetzer des rechten Frontkämpferbundes, die im burgenländischen Schattendorf während einer Veranstaltung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei einen sechsjährigen Buben und einen Bauarbeiter erschossen hatten. Nach dem Freispruch der Todesschützen demonstrierten in Wien die Massen, der Justizpalast brannte, 89 Tote und über 600 Verletzte forderte der Protest. 1947 wurde Riehl ÖVP-Mitglied. Er verlangte von den „Ehemaligen“, christlich-sozial zu wählen, „um nicht dauernd als sogenannte ‚Faschisten‘ abseits zu stehen“. Ein echter Österreicher.

Herbert Lackner: Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt. Ueberreuter, 206 S., EUR 25,–

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.