Als der Raub von Büchern und Bibliotheken verbrecherischer Alltag war
Von Wolfgang Paterno
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Die Kostbarkeiten schiebt Ute Wödl auf einem Rollwagen heran, in säurefreien, hellgrauen Schachteln sind sie verwahrt. Für Wödl, die Bibliotheksleiterin der Wiener Arbeiterkammer (AK), die ihre Arbeitstage umringt von Bücherwänden zubringt, dreht sich an diesem Dezembernachmittag alles um die 17 Bände in den Kartonschachteln.
Ende November restituierte die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung diese 17 in der Nazi-Zeit geplünderten Bücher aus ihren Beständen an die Sammlung in der Wiener Prinz-Eugen-Straße. Es sind Werke
vergessener Autoren mit Titeln wie „Das Problem der besten Gesellschaftsordnung“, „Krankenschein gefällig?“ oder schlicht „Arbeiterlesebuch“. In einem der Exemplare findet sich die handschriftliche Widmung „Viktor Adler in Verehrung“. Lesestoff, der buchstäblich aus den Jahrzehnten gefallen ist, der zugleich
einiges über den Umgang dieses Landes mit seiner NS-Vergangenheit erzählt, in aller Ambivalenz und Widersprüchlichkeit. Vor 25 Jahren wurde das Kunstrückgabegesetz in Österreich beschlossen – mit dem Ziel, die während oder als Folge der NS-Gewaltherrschaft in den Besitz des Bundes gelangten Sammlungsgegenstände aus den Bundesmuseen, der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) und dem Bundesmobiliendepot an die ursprünglichen Eigentümerinnen und Eigentümer oder deren Rechtsnachfolgerinnen und Rechtsnachfolger zurückzugeben. 17 Bücher als ein Versuch später Wiedergutmachung. Restitution als hoch symbolischer Akt.
Bücher auf Scheiterhaufen
„Bücher haben ihre Schicksale“, notierte der deutsche Philosoph Walter Benjamin 1925 in seinem Essay „Ich packe meine Bibliothek aus“, der im Innsbrucker Limbus Verlag soeben wiederaufgelegt wurde. Benjamin weiter, ohne auch nur zu erahnen, dass bald schon Bücher auf Scheiterhaufen brennen werden: „Sie haben schon von Leuten gehört, die am Verlust ihrer Bücher zu Kranken, von anderen, die an ihrem Erwerb zu Verbrechern geworden sind.“
Bücher sind Alltagsgegenstände, erscheinen häufig in hohen Auflagen; qua Funktion als Tag-für-Tag-Artikel haben sie in der Regel mehr ideellen als materiellen Wert. Die 17 geraubten Bände sind dennoch das Sinnbild für etwas Größeres. Ute Wödl sagt in ihrem Büro in der AK-Bibliothek: „Ich halte es grundsätzlich für barbarisch, geistige Erzeugnisse von Menschen zu vernichten, egal in welchem Zusammenhang, weil damit auch immer die Auslöschung einer Person einhergeht.“ Dabei sei es egal, ob es sich um ein Buch, einen Film oder ein anderes Medium handle: „Zerstörung aus ideologischen Gründen ist reine Barbarei, weil es immer um mehr als das Ding an sich geht.“
Verzeichnis des Verbrechens
Im Büro von Margot Werner in der Österreichischen Nationalbibliothek am Wiener Heldenplatz ruht ein kiloschwerer Buchband auf dem Besprechungstisch. Die Historikerin und Bibliothekarin ist Leiterin des Projekts zur Erfassung von Raubgut und der Hauptabteilung „Benützung und Information“. In gewissem Sinn steckt der Ungeist von Hass und Willkür im Folianten auf dem Tisch: Das sogenannte „Einlaufsbuch“ war, beginnend mit dem Datum vom 27. Juli 1939, ausschließlich für die Dokumentation geraubter Bücher reserviert, für eine endlos lange Liste abgepresster, geraubter, enteigneter Literatur, ein penibel geführtes Verzeichnis des Verbrechens. Frühe Beschlagnahmungen tragen den Eingangsvermerk „Gestapo“, bald ersetzt durch das vernebelnde Kürzel „P38“. P für Polizei.
Es sei allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern, schrieb ÖNB-Generaldirektor und SS-Mann Paul Heigl im Jänner 1944 in einem Brief an einen Kollegen. Die nach dem „Anschluss“ im März 1938 drittgrößte Bibliothek im Deutschen Reich vermehrte ihre Bestände dreist mit Raubgut, wie der kürzlich verstorbene Germanist Murray G. Hall bereits 2006 in einer gemeinsam mit der Bibliothekswissenschafterin Christina Köstner abgefassten Untersuchung festmachte. In Wäschekörben und via Lkw-Fuhren wurde die Bücherbeute am Wiener Heldenplatz abgeladen.
Margot Werner hat in ihrem Büro exakte Zahlen und Fakten parat. Die Sache mit der Restitution verlangt klare Sicht. „In der Nachkriegszeit wurde kolportiert, es seien sämtliche belastete Bücher und Publikationen zurückgegeben worden“, sagt Werner. „Die Verwunderung war groß, als die Österreichische Nationalbibliothek 2003 gezählte 52.403 Objekte in den unterschiedlichen Sammlungen des Hauses dokumentierte, die als entzogen im Sinne des Kunstrückgabegesetzes, Bundesgesetzblatt I 181/1998, zu bewerten waren.“ In anderen Worten: Die braune Gier war obszön grenzenlos.
In den vergangenen zwei Dekaden wurden von den 52.403 geraubten Posten, die das Haus betreffen, 50.947 restituiert. Offen sind 1208. Jeder Fall zählt. Autopsie nennt sich das im Bibliothekswesen. 500.000 Medien wurden in der Nationalbibliothek per Hand auf Vorbesitzzeichen, Annotationen, Exlibris-Stempel geprüft: Bücherberge, Handschriften, Autografen, Musiknotendrucke, Fotografien, Negative, Kartenwerke.
Ein Gespräch mit Margot Werner ist eine Reise in die Vergangenheit, eine imaginierte Tour durch Tiefspeicher und Buchmagazine. Was die Zukunft nicht ausschließt. „Ich bin zuversichtlich, dass 99 Prozent aller geraubten Werke von der Nationalbibliothek dokumentiert und restituiert wurden“, sagt Werner. „Dennoch bleibt die Rückgabe an die vorherigen Eigentümer ein Prozess, der niemals ganz zu Ende sein wird.“ Der „unsägliche ‚Schlussstrich‘“, sagt sie, dürfe nie gezogen werden.
Im Halbschatten der Historie
Bibliothekarische Provenienzforschung ist Millimeterarbeit, Spurensuche im Halbschatten der Historie. Hinweise werden überprüft, Recherchen angestellt, Indizien eingegrenzt. Die Nachforschung kommt zwangsläufig nicht ohne Leerstellen und weiße Flecken aus. Im Fall der 17 Bücher jagt eine Gräuelgeschichte die nächste. Es ist ein Lehrstück darüber, wie der Nationalsozialismus die kulturelle Moderne auszulöschen trachtete – und wie die Auseinandersetzung mit dem Hitlerterror jahrzehntelang von Verdrängung, Verschweigen und Verschlampen geprägt war.
Die 1922 eröffnete sozialwissenschaftliche Studienbibliothek der Wiener Arbeiterkammer, die sich zu einem Gutteil aus den erworbenen Privatbibliotheken der sozialdemokratischen Ideengeber Engelbert Pernerstorfer, Leopold Winarsky, Anton Menger und Victor Adler zusammensetzte, zählte mit ihren 160.000 Bänden zum Zeitpunkt der Auflösung 1938 europaweit zu den bedeutendsten Einrichtungen ihrer Art. Ein linkes Herzstück der Forschung und Fortbildung. Die Bedeutung der Büchersammlung lässt sich in Zahlen darstellen: Der Wochenlohn eines Arbeiters betrug anno 1926 um die 60 Schilling; das Ankaufsbudget der Bibliothek im selben Jahr belief sich auf den exorbitant hohen Betrag von 50.000 Schilling.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland kam die Bibliothek unter NS-Verwaltung. „Victor Adler war eine zentrale Persönlichkeit der österreichischen Sozialdemokratie“, sagt Ute Wödl mit Blick auf die 17 Bände auf dem Tisch vor ihr. „Seine Bibliothek war eine der vier ‚Gründungsbibliotheken‘. Diese zu plündern, hatte einen perfiden, gewollt zerstörerischen Charakter: Für die Anhänger der Sozialdemokratie war das ein genauso niederschmetterndes Symbol der Auslöschung wie die öffentliche Verbrennung der Bücher von Stefan Zweig, Erich Kästner oder Kurt Tucholsky.“
Rasch erfolgte die Sichtung der AK-Ausstattung durch Gestapo und den Sicherheitsdienst der SS. Die wertvollen Bestände der „Gründungsbibliotheken“ wurden in Hunderten, aus groben Latten gezimmerten Holzkisten hastig nach Berlin geschafft. Am 26. April 1938, gut eineinhalb Monate nach dem „Anschluss“, war der Abtransport der „Marxisten-Bibliotheken“, so die Diktion der Nazis, erledigt.
Gegen die Fortschaffung der AK-Restbestände nach Berlin ein gutes Jahr später wehrte sich anfangs der Wiener Gauleiter Odilo Globocnik. Hitler selbst ordnete schließlich den Abtransport der Arbeiterkammerbibliothek in die Reichshauptstadt an. Die Bücher aus Wien wurden offenbar auf verschiedene Standorte aufgeteilt und mit den Beständen anderer Bibliotheken der Arbeiterbewegung wahllos vermischt. „Hitlers Partei hat es früh verstanden, dass man die Denkweise politischer Gegner verstehen muss“, sagt Ute Wödl. „Deswegen wurden ganze thematisch geschlossene Büchersammlungen geplündert. Die Nazis wollten gewissermaßen eine Referenzbibliothek zur Feindbeobachtung aufbauen.“
In Berlin verwischen sich bald die Spuren. Gesichert überliefert ist lediglich die Inkorporation von zwei der 17 AK-Exemplaren in den grauen Schachteln in das Zentralbüro der „Deutschen Arbeitsfront“, dem Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber während der NS-Herrschaft mit Sitz in Berlin. Zwei der 17 Exemplare weisen „Zentralbücherei der Deutschen Arbeitsfront“-Stempel auf.
Anruf in Bonn. Christian Maiwald ist Historiker und Provenienzforscher an der Friedrich-Ebert-Stiftung und war federführend an der Rückführung der 17 Bücher beteiligt. Die Ebert-Stiftung ist eine sozialdemokratische Einrichtung, die während der NS-Herrschaft ebenfalls rigoros beschränkt, bekämpft, zerschlagen, verboten wurde. „Der Furor richtete sich unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wie in Österreich gegen die Einrichtungen der politischen Gegner“, sagt Maiwald am Telefon. Die Verfolgung aufgrund politischer, rassischer oder weltanschaulicher Gründe fand ihre frühe Manifestation im Vorgehen gegen die Bibliotheken.
„Bibliothekarische Provenienzforschung und die Restitution als deren mögliches Ergebnis spielen sich auf dem Feld der Erinnerungskultur ab“, sagt Maiwald. „Jene 17 Bücher, die nach Wien rückerstattet wurden, sind zugleich eine Art Prisma: Wir blicken durch diese Publikationen auf größere Zusammenhänge – auf die immensen, der NS-Barbarei geschuldeten Verluste an Kultur.“
Erinnerungsarbeit und Verlustgeschichten
Provenienzforschung erzählt immer auch Verlustgeschichten. Sie liefert Hinweise darauf, was alles in den Bibliotheken verloren ging und vernichtet wurde. Die Restitution von Büchern arbeitet historisches Unrecht auf – und macht auf eine Form der Erinnerungsarbeit aufmerksam, die durch das Konzept des Verlustes geprägt ist: „Man muss immer wieder darüber reden, wie viele Bücher und Bibliotheken für den Augenblick als vermisst oder vernichtet gelten müssen.“
In den Kriegswirren verliert sich der Weg der 17 Bücher vollends. Nach 1945 wurden die Publikationen offenbar in den Gebrauchtbuchhandel eingespeist; in den 1970er-Jahren erwarb die Friedrich-Ebert-Stiftung die fraglichen Werke von einem nicht mehr näher identifizierbaren Antiquariat.
Im Jänner 1948 kehrten 113 Kisten mit rund 20.000 Bänden nach Wien zurück, darunter Teile der Bibliotheken von Adler und Pernerstorfer, 1949 folgten Bestände aus Tschechien, bis 1957 wurden 4500 Bücher aus Polen retourniert. Von den einst 16.000 Bänden der Privatsammlung des Sozialtheoretikers Anton Menger, Teil des historischen AK-Bibliothekskerns, sind bis dato grob gerechnet 500 an ihren rechtmäßigen Ort zurückgekehrt. Von den 160.000 Büchern der AK-Bibliothek im Jahr 1938 gelangten bis zum heutigen Tag 35.000 Exemplare in die Regale zurück. 35.000 plus 17.
Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.