DEUTSCHLAND: 06.05.2024, Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Eine Putin-Figur mit blutgetränkten Händen steht in der Werkstatt des Düsseldorfer Künstlers Jacques Tilly. Die Figur soll am 7. Mai von der Organisation Freies Russland in Den Haag ausgestellt werden. Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehl gegen Putin erlassen. F
Kulturtipp

Weltverdunkler Kim & Wladimir

Obacht, Antike! Bei der Althistorikerin Mary Beard und ihren Erzählungen aus dem alten Rom drückt Wolfgang Paterno gern wieder die Schulbank.

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Die Analogie ist verlockend, führt aber nicht weit. Kim Jong-un, „Oberster Führer“ Nordkoreas, als antiker Despot? Der russische Präsident Wladimir Putin, Ex-KGB-Mitarbeiter und Kriegsherr, als Imperator? Da braucht es Mary Beard, die wohl berühmteste Althistorikerin der Welt, die seit Jahrzehnten in Cambridge lehrt, um die allzu freihändig angesetzte geschichtliche Messlatte halbwegs geradezurücken. Beard, 69, erzählt von der nur vorgeblich untergegangenen Welt des Römischen Reichs in ihren Büchern gern in unterschiedlichen Bedeutungsebenen, die sie ineinander und bis in unsere Gegenwart hinein klingen lässt: „Von der toga candida, der besonders weißen Toga, die Römer während eines Wahlkampfs trugen, um die Wähler zu beeindrucken, leitet sich unser heutiges Wort Kandidat ab“, notierte Beard 2016 in „SPQR“, ihrer Geschichte über Volk und Senat Roms. Prodesse et delectare, wie die Lateinerinnen und Lateiner sagen: Beards Bücher sind so einfallsreich wie scharfsinnig – und grundiert von der Erkenntnis, dass vermeintliche Zirkelschlüsse zwischen antiker Vergangenheit und Gegenwart nur allzu oft falsch gezogen werden. 

Kürzlich erschien „Die Kaiser von Rom“ (S. Fischer), Beards umfassender Bericht über Leben und Herrschaft der Kaiser Roms – von Augustus bis Caligula, von Nero bis Vespasian: insgesamt fast 30 Männer, die gleichermaßen für Grausamkeit und Sadismus, Macht und Korruption, aber auch für Philosophie und Literatur (Mark Aurels „Selbstbetrachtungen“) standen. „Die Korridore der Macht waren wie auch viele andere, bescheidenere Korridore in Rom stets blutbefleckt“, schreibt Beard: „Doch das Römische Reich hätte als System nicht überleben können, wenn es von einer Reihe geistesgestörter Autokraten regiert worden wäre.“ Man begegnet in „Die Kaiser von Rom“ längst nicht so vielen Psychopathen, wie man aufgrund der vielen Hollywoodfilme über das kaiserliche Rom erwarten würde. Vorsicht lässt Beard vor allem bei vorschnellen Analogieschlüssen walten: Nero, der 64 n. Chr. seine Lyra zupft, während Rom brannte, als Putin-Vorläufer? Kaiser Domitian, der angeblich Stunden damit zubrachte, allein in seinem Zimmer mit einer Schreibfeder Fliegen zu töten, als sadistischer Urahn Kim Jong-uns? „Wie nahe können wir jetzt diesen Menschen und dem, was sie taten, kommen?“, schreibt Beard in „Die Kaiser von Rom“: „Und wie nahe können wir dem Kaiser selbst in die Augen schauen? Können wir jemals die Verdrehungen der Propaganda, die Lobpreisungen und Denunziationen durchschauen und dahinter ein menschliches Wesen erkennen?“ Direkte Lektionen für die Gegenwart können daraus nicht abgeleitet werden: Kim Jong-un und Putin sind Weltverdunkler eigenen Formats, denen selbst mit der Antike nicht beizukommen ist. 

Die Welt, soviel darf verraten werden, war vor 2000 Jahren in etlichen Belangen dann doch eine andere. „Ein griechischer Besucher berichtete im 1. Jahrhundert vor Chr. schockiert von gallischen Häusern“, schreibt Beard in „SPQR“, an deren Eingang die abgeschlagenen Köpfe von Feinden aufgehängt waren, räumte jedoch ein, dass man sich nach einer Weile an den Anblick gewöhne.“

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.