Seit 40 Jahren drehen Sie Filme, die sich gegen das rechte Israel richten und Friedensoptionen ausloten. Wie beurteilen Sie die gegenwärtig so triste Situation?
Gitai
Es ist eine furchtbare Tragödie, die am 7. Oktober mit dem bestialischen Terror der Hamas begann, dem mehrheitlich progressive Juden wie die Friedensaktivistin Vivian Silver zum Opfer fielen. Es ist wichtig, zu individualisieren. Auf diesen Angriff reagierte Israels Regierung, geführt von einem immensen Zyniker, der seinen Machiavelli verinnerlicht hat, mit ebenfalls unaussprechlicher Gewalt. Aber da wir hier in Wien sitzen, kann ich nicht umhin, mich daran zu erinnern, dass vor nicht einmal 100 Jahren auf diesem Kontinent der großen Denker und Kulturschaffenden zig Millionen Menschen grausamst ermordet wurden. Es ist bizarr, dass ausgerechnet Europäer dem Rest der Welt erklären wollen, wie man sich zu verhalten habe. Dieses intelligenzbegabte Tier, das sich Mensch nennt, hat eine sehr problematische Seite.
Als wir 2015 miteinander sprachen, meinten Sie, Ihr Optimismus sei ungebrochen; in Nahost könne es nun nur noch aufwärts gehen. Da haben Sie sich verrechnet.
Gitai
Stimmt. Und dennoch würde ich an dem Satz festhalten. Denn Optimismus und Hoffnung sind alternativlos. Nihilismus bringt uns nirgendwohin.
Warum weigern sich gerade Menschen aus der Kulturszene so beharrlich, die Verbrechen der Hamas zu verurteilen?
Gitai
Aus Ignoranz. Sie sind kultiviert und gebildet, genau wie Netanjahu. Aber die Geschichte lehrt uns, dass es oft kultivierte Menschen sind, die zu den grauenerregendsten Taten neigen. Andererseits war es stets gerade die Kunst, die Auswege aus der Vernichtung imaginierte. Nehmen Sie Picassos „Guernica“-Gemälde, das er 1937 malte, als die Luftwaffe gerade jenes baskische Dorf bombardierte. Im direkten politischen Duell gegen Franco unterlag Picasso, denn der Diktator blieb über Jahrzehnte an der Macht. Aber Picasso gelang etwas noch Wichtigeres: Er verankerte den Kampf gegen die Barbarei in der kollektiven Erinnerung. Das geht aber nur ohne Pädagogik: Propagandistische Kunst funktioniert nicht.
Auch wenn der künstlerische Humanismus Krieg und Mord nicht ad hoc beenden kann – sein Langzeiteffekt ist stark.
Gitai
Eben. An Picasso wird man sich auch in 100 Jahren erinnern. An Franco weniger.