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Annie Ernaux: Telefon überhört

Der Literaturnobelpreis 2022 geht an die französische Schriftstellerin Annie Ernaux. Eine ausgezeichnete Wahl.

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Es sind wenige Sätze, schon ist man gefangen. „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen“, schreibt Annie Ernaux in „Die Scham“: „Es war der 15. Juni 1952. Das erste und eindeutige Datum meiner Kindheit. Davor gibt es nur aufeinanderfolgende Tage und das Datum an der Schultafel oder oben in meinem Heft.“ Das Erinnern wird jedoch immer auch vom Vergessen unterminiert: „Alle Bilder werden verschwinden“, notiert die französische Autorin in „Die Jahre“, dem melancholischen Meisterstück ihrer Gedächtnisprosa. Am Donnerstag gab die schwedische Akademie bekannt, dass Ernaux, 82, für den „Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt“, mit dem diesjährigen Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird. 


Die Schriftstellerin, die von 1977 bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2000 als Lehrkraft an einer staatlichen Schule arbeitete und in der Gemeinde Cergy vor den Toren von Paris lebt, wurde hierzulande erst spät entdeckt. Ihre über 20 Bücher, sechs davon inzwischen in deutscher Neuübersetzung im Berliner Suhrkamp Verlag, kennen ein Thema, das erforscht, ergründet und ermittelt wird: Annie Ernaux. Zu einer klaren Meinung und einem sicheren Befund über sich selbst hat die Autorin selbstredend nie gefunden. Jedes neue Buch eine weitere und erweiterte Umkreisung der eigenen Vergangenheit, die über das rein Individuelle hinausweist. „Dies ist keine Biografie und natürlich auch kein Roman, eher etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung“, bemerkt Ernaux in „Eine Frau“, dem Buch über ihre Mutter, das auf Umwegen natürlich auch von ihr selbst berichtet.

Ernaux hat nie eine Formel entwickelt, mit der sie vom Damals erzählt. 1974 erschien mit „Les armoires vides“ („Die leeren Schränke“) Ernaux’ erstes Buch über eine Frau in einer französischen Kleinstadt. Spätestens mit „Eine Frau“ (1987) fand die Autorin zu Ton und Thema ihres Schreibens, das ihre Herkunft aus dem französischen Kleinbürgermilieu und den Aufstieg in die Mittelschicht einbezieht. Ihre Antworten auf die großen Fragen der Kindheit, Jugend und des Erwachsenwerdens, an die sich die Autorin in allen ihren Büchern herantastet, fallen so widersprüchlich wie fern jeder schnöden Dialektik aus. Die Vergangenheit, von den Unterströmungen des Vergessens akut angekränkelt, bleibt für Ernaux ein Buch mit viel mehr als sieben Siegeln: „Wenn ich dem Jahr 1958 auf den Grund gehen will, muss ich die Zerstörung aller Interpretationen akzeptieren, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben“, schreibt sie in „Erinnerung eines Mädchens“ über ihren Missbrauchsfall in einem Feriencamp: „Nichts glätten. Ich konstruiere keine Romanfigur. Ich dekonstruiere das Mädchen, das ich gewesen bin.“

Die Geschehnisse der Vergangenheit, die sich Ernaux erschreibt, entstammen dabei nie einer Art Asservatenkammer, die all das bereithält, was das Damals lückenlos werden ließe, schon gar nicht schön und sentimental. „Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht zu den Mitteln der Kunst greifen, darf ich nicht ‚spannend‘ oder ‚berührend‘ schreiben wollen“, notiert sie in ihrem Vaterbuch „Der Platz“: „Ich werde die Worte, Gesten, Vorlieben meines Vaters zusammentragen, das, was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise einer Existenz, von der auch ich ein Teil gewesen bin. Keine Erinnerungspoesie, kein spöttisches Auftrumpfen. Der sachliche Ton fällt mir leicht, es ist derselbe Ton, in dem ich früher meinen Eltern schrieb, um ihnen von wichtigen Neuigkeiten zu berichten.“ Klarer und schöner kann man vom Einst kaum berichten. Mit ihren Leserinnen und Lesern, die nun wohl bald in die Hunderttausende gehen werden, wird sie sich weiterhin nicht verbünden. „So etwas lehne ich ab, egal in welcher Form, ob Nostalgie, Pathos oder Ironie“, schreibt sie in „Der Platz“.


Ein schönes Finale, eine feine Schlusspointe. Ernaux glaube an die befreiende Kraft des Schreibens, hieß es seitens der Akademie, sie schreibe kompromisslos und in klarer Sprache. Von der Ehrung erfuhr die Preisträgerin auf Umwegen, nicht wie üblich durch den berühmten Telefonanruf vorab. „Ich habe heute Morgen gearbeitet und das Telefon hat die ganze Zeit über geklingelt“, erzählte Ernaux später, „aber ich bin nicht rangegangen.“

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.