Arnulf Rainer: Rauschangriff
Es gibt zwei Anekdoten über den jungen Arnulf Rainer, die ein eher widersprüchliches Bild von ihm zeichnen. Sie ereigneten sich im Abstand von zwei Monaten des Jahres 1951. Eine beruht auf Erinnerungen des längst verstorbenen Psychiaters und Kunstsammlers Ottomar Domnick, an dessen Tür der Künstler einst geklingelt haben soll: „ein junger, magerer Mann mit großem Lockenschopf, schüchtern lächelnd, unter dem Arm die große Zeichenmappe“. So schilderte es Domnik der Journalistin Barbara Catoir: „Mit sehr leiser Stimme habe er sich vorgestellt und gefragt, ob er ihm seine Arbeiten zeigen dürfe.“
In der zweiten Geschichte verstört Rainer das Publikum einer Vernissage der „Hundsgruppe“, einer von ihm mitgegründeten Wiener Künstlervereinigung. Damals soll er die Eröffnungsrede seines Kollegen Ernst Fuchs unterbrochen haben, indem er „wie ein Krokodil im Kasperltheater, in seinen Händen Hammer und Säge“ aufgetaucht sei. Den Gästen habe er beschieden: „Wir scheißen auf euch! Ihr seid alle Arschlöcher! Ihr mit eurer verrotteten Kulturauffassung!“ Dies berichtete der Künstler Wolfgang Kudrnofsky laut Maria-Lassnig-Biografin Natalie Lettner. Seinen Künstlerkollegen gegenüber trat Rainer lautstark als wilder Hund auf, Sammlern dagegen näherte er sich auf samtenen Pfoten. Vielleicht belegen diese Auftritte allerdings weniger ein paradoxes Innenleben als ein sicheres Gefühl für Situationen – und für Selbstmarketing. Freund und Feind sind sich jedenfalls einig über Rainers Begabung in Sachen Eigen-PR und Geschäftstüchtigkeit.
Dieses Talent allein ist jedoch nicht verantwortlich für Rainers Erfolg in der internationalen Kunstwelt. Längst gilt der mehrfache Biennale-Venedig- und Documenta-Teilnehmer als wichtigster lebender Künstler Österreichs. Die führenden Museen der Welt widmeten ihm Einzelausstellungen; so zeigte er sein Werk 1989 im New Yorker Guggenheim, 1984 im Centre Pompidou und 2000 im Amsterdamer Stedelijk Museum. Zudem ist er in den zentralen Sammlungen für Gegenwartskunst bestens vertreten: Der Online-Katalog der Londoner Tate Gallery verzeichnet 29 Werke des Künstlers (darunter einige Kooperationen mit Günter Brus), das New Yorker Museum of Modern Art besitzt 31 Objekte.
Am 8. Dezember feiert Arnulf Rainer, der heute meist auf Teneriffa lebt, seinen 90. Geburtstag. Neben allerlei Wünschen und Ehrungen, die ihm von kulturpolitischer Seite zugetragen werden, zelebrieren ihn aktuell mehrere Ausstellungen: Die Wiener Albertina und das Badener Arnulf-Rainer-Museum zeigen Überblicksschauen, die Galerie Ulysses präsentiert jüngere Arbeiten.
Die Bilder, in denen er Farbe direkt mit den Fingern auf die Leinwand auftrug, eröffneten alternative Dimensionen in der Malerei.
Arnulf Rainer fand früh zu dem, was bis heute seine Marke ist. Bereits in den 1950er-Jahren begann er, Bilder zu übermalen – Fotos, Reproduktionen, eigene Kunstwerke oder welche von anderen. Er beschritt damit einen „Weg der unermüdlichen Befreiung von einer Tradition des Verfalls“, wie er es in einem Text mit dem Titel „Malerei, um die Malerei zu verlassen“ umschrieb. Dennoch wäre es ein Fehler, Rainers Œuvre nur unter dem Aspekt der Auslöschung zu betrachten. Seine „Face Farces“, grimassierende Selbstporträts, werfen einen existenziellen Blick auf das Ich. Die Bilder, in denen er Farbe direkt mit den Fingern auf die Leinwand auftrug, eröffneten alternative Dimensionen in der Malerei. Seine „Zentralgestaltungen“, abstrakte Strichbündel, bersten vor Energie. Zu einem Zeitpunkt, da Österreich noch in den Nachwehen der NS-Kulturpolitik lag, führte er einen malerischen Diskurs auf globalem Niveau.
Geboren im niederösterreichischen Baden, zog Rainer als Schüler nach Kärnten, wo er seine Kollegin Maria Lassnig kennenlernte. Ihre anstrengende Liebschaft führte die beiden 1951 gemeinsam nach Paris. Dort entdeckte das Künstlerpaar nicht nur das Action Painting von Jackson Pollock und den Tachismus George Mathieus, es pilgerte auch zu André Breton, dem Chefdenker des Surrealismus. Er propagierte unter anderem die „Écriture automatique“, das „Denkdiktat ohne jede Kontrolle der Vernunft“, wie er es nannte. Die Begegnung enttäuschte den neugierigen Wiener Nachwuchskünstler zwar: „Als wir bei Breton zu Gast waren, erschien plötzlich so ein Biedermeiermädchen, das war seine Tochter und servierte“, erinnerte er sich 2014 in einem profil-Interview. „Das war alles sehr bürgerlich, Breton war weit davon entfernt, ein Bohémien zu sein.“ Allerdings brachte die spießige Erscheinung des einstigen Kunstrevolutionärs Rainer nicht davon ab, sich weiterhin mit der Frage nach der Kunstproduktion unter veränderten kognitiven Bedingungen zu befassen. Er zeichnete im Dunkeln, konsumierte vor dem Malen Drogen und beschleunigte seinen Strich so rasant, dass er keine Kontrolle mehr darüber hatte. „Die Götter besuchen einen vor allem im Rausch. Man hat dann eine größere Sensibilität, größere Gedankensprünge, sie sind weiter und freier“, notierte er 1968.
So verwundert es auch nicht, dass Arnulf Rainer zu den ersten Kunstschaffenden gehörte, die sich für die Kunst von Psychiatriepatienten interessierten. In einer Diktion, die heute wohl einen digitalen Shitstorm provozieren würde, schrieb er 1978 über den Art-brut-Künstler Johann Hauser: „Wenn es einem debilen Außenseiter gelingt, durch die Qualität seines künstlerischen Werkes 99 Prozent der professionellen Maler zu degradieren, wenn es Infantilität ermöglicht, so intensiv zu gestalten, dass Werke von hohem Rang entstehen, die die gebildete Kunst in manchen Aspekten überholen, hat das Konsequenzen sowohl für des Künstlers Selbstbewusstsein als auch für das Problem seines sozialen Status, seiner eigenen Rollendefinition.“
2005 präsentierte Rainer seine eigenen Bilder in der Pariser „Maison rouge“ neben jenen von Hauser und anderen Outsider-Artists. Damit verneigte er sich vor dem kreativen Potenzial psychischer Zustände, die der Norm widersprechen – zu Recht: Es hatte ihn selbst zu großartigen künstlerischen Erfolgen geführt.