Die britische Schauspielerin Tilda Swinton hielt als Ehrengast anlässlich der Berlinale-Eröffnung eine vielbeachtete Rede.
Kino
Außerirdisch, innerpsychisch: Großes Krisenkino bei der 75. Berlinale
Verstörende Komödien, Überraschungen im Wettbewerb und eine starke Österreich-Beteiligung bereichern die laufenden Filmfestspiele in Berlin. Ein antisemitischer Vorfall sorgt jedoch für polizeiliche Ermittlungen.
Die politische Lage ist auch in Berlin merklich angespannt. Am gestrigen Sonntag waren rund 30.000 Menschen in den Straßen der Hauptstadt unterwegs, um gegen die „Normalisierung rechter Politiken und Diskurse“, gerade angesichts rezenter Attentate durch islamistische Soziopathen, zu protestieren. In weniger als einer Woche, am 23. Februar, wird ein neuer Bundestag gewählt, die rechtsextreme AfD darf mit saftigen Zuwächsen rechnen (wenn auch, anders als die ideologisch Verbündeten in Österreich, nicht mit dem Wahlsieg), zugleich wird dies der letzte Spieltag der 75. Filmfestspiele Berlin sein. Das ist passend, denn das Festival, geboren 1951, nur sechs Jahre nach dem Untergang des Naziregimes, hat sich stets explizit politisch verstanden: die Filmkunst als Trägerin von Humanismus, als Mahnerin in dunklen Zeiten. Diese Zeiten aber sind kompliziert, und was die einen als humanistisch empfinden, gilt den anderen schon als Verhetzung. Die große britische Charakterdarstellerin Tilda Swinton, 64, zur Festspieleröffnung schon mit einem Goldenen Ehrenbär ausgezeichnet, bekannte sich bei einer Pressekonferenz als „große Bewunderin“ der antiisraelischen, in Teilen aber auch antisemitisch agierenden BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions), sie respektiere deren Ziele – obwohl die BDS-Fundis schon vor Wochen zum Boykott der Berlinale aufgerufen und dem Festival unterstellt hatte, „Komplizin bei der Beteiligung der Bundesregierung an Israels Völkermord in Gaza“ zu sein. Am Tag davor hatte Swinton in ihrer Berlinale-Rede das Kino noch als Utopia, als unabhängiges Reich gefeiert, als Land ohne Grenzen, „ohne Abschiebungen und Visumpflicht“. Die aus North Carolina stammende neue Chefin der Berlinale, Tricia Tuttle, 55, schwieg zu Swintons BDS-Bekenntnis; sie steht nun – auch nach dem letztjährigen Pro-Palästina-Eklat während der Preisverleihung – vor der nicht zu unterschätzenden Schwierigkeit, ein in Meinungsfreiheit und Politdebatten fest verankertes Festival vor weiterer Instrumentalisierung zu bewahren. Es wollte jedoch nicht gelingen, die antisemitischen Töne von links blieben vernehmlich. Bei der Premiere des Films "Queerpanorama" meldete sich einer der Hauptdarsteller, der Iraner Erfan Shekarriz, mit der einschlägigen Israel-Auslöschungs-Parole "From the River to the Sea" zu Wort. Der chinesisch-britische Regisseur des Films, Jun Li, verlas das Statement des pro-palästinensischen Schauspielers, der nicht selbst angereist war, weil er die Berlinale als angebliche Handlangerin Israels boykottiert. Nun ermittelt das Landeskriminalamt wegen des Vorfalls.
Das Wettbewerbsprogramm, das Tuttle mit ihrem Auswahlkomitee vorgelegt hat (und in dem auch die Österreicherin Johanna Moder vertreten ist, profil berichtete), geriet über alldem fast ins Hintertreffen: Dabei hielt es in den ersten Spieltagen durchaus Überraschungen bereit.
Realitätsverlust Ein Zufall ist es jedoch nicht, dass das Gegenwartskino in seinem Versuch, die politische Trostlosigkeit zu spiegeln, Innenansichten schwerer Psychokrisen zu seinem Leitmotiv erhoben hat: Die Amerikanerin Mary Bronstein etwa steuerte dem Wettbewerb eine surreal-freudianische Horror-Comedy namens „If I Had Legs I’d Kick You“ bei, in der die australische Schauspielerin Rose Byrne eine veritable Tour de Force hinlegt: Die labile Psychotherapeutin, die sie darstellt, schlittert angesichts der Essstörung ihrer Tochter in einen so erschreckenden wie hochkomischen Realitätsverlust.
Rose Byrne in der wahnwitzigen Psycho-Comedy "If I Had Legs, I'd Kick You"
Auch zwei Filme aus Österreich, in Nebenreihen prominent platziert, erkundeten auf je eigene Weise mentale Ausnahmezustände: Andreas Prochaska geht in seinem expressiven Schocker „Welcome Home Baby“ in die Feinzeichnung – wie Moder und Bronstein skizziert er die psychischen Abgründe, die das Erlebnis der Mutterschaft in die doppelten Böden scheinbar wohlsituierter Existenzen reißen kann.
Luisa-Céline Gaffron in Florian Pochlatkos Regiedebüt "How to Be Normal ..."
Wo aber Prochaska, handwerklich gewohnt brillant und mit der souveränen Julia Franz Richter als Protagonistin, vor allem in das Nähkästchen des Horrorexzesse (mit Geisterhaus und satanistischer Dorfgemeinde) greift, unternimmt der Wiener Regisseur Florian Pochlatko in seinem Debüt, das er „How to Be Normal and The Oddness of the Other World“ genannt hat, weniger Naheliegendes: Sein Psychogramm einer jungen Frau mit affektiver Störung (dynamisch: Luisa Gaffron) zerstäubt er in einen veritablen Rausch von Medien- und Wahrnehmungsexperimenten, der auch die Grenzen zwischen Lust- und Trauerspiel planvoll verschwimmen lässt. Der Film wird Ende März übrigens das Grazer Austrofilmfestival Diagonale eröffnen.
Trump, revisited Das liebste Spiel aller Filmfestivals, die stufenlose Erhöhung der VIP-Dichte am Red Carpet, hat man heuer schon fast gewonnen: Timothy Chalamet, der außerhalb des Wettbewerbs in „Like a Complete Unknown“ als junger Bob Dylan brilliert, tänzelte im weißen Hipster-Unterhemd vor den versammelten Kameraobjektiven, und auch Kollege Robert Pattinson, der in der Science-Fiction-Despotengroteske „Mickey 17“ (Regie: „Parasite“-King Bong Joon-ho) einen chronischen Verlierer auf einem fremden Planeten spielt, sowie Jessica Chastain – sie führt das Ensemble in Michel Francos Migrations-Melodram „Dreams“ an – brachten die Menge verlässlich zum Kreischen.
Robert Pattinson, Star in Bong Joon-hos "Mickey 17", erscheint zur Premiere seines jüngsten Films.
Auf Donald Trumps inhumane, die Ärmsten ausbeutende Politik beziehen sich sowohl „Mickey 17“ als auch „Dreams“: im einen Fall mit der Karikatur eines sadistischen extraterrestrischen Unterdrückers, gespielt von dem grandiosen Mark Ruffalo, im anderen Fall durch den Bezug auf die radikale Abschiebepolitik der US-Regierung. Auf die Misere, in der die Welt sich aktuell befindet, muss das Kino reagieren. Es tut dies auf seine Weise: leidenschaftlich und in aller Wildheit, himmelhoch komisch und zu Tode betrübt.
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Stefan Grissemann
leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.