Autor Christoph Ransmayr über Zeit, Tod und erste Romansätze
Christoph Ransmayr lässt auf sich warten. Er ist etwas unpünktlich, was nicht weiter von Bedeutung wäre, hätte es nicht mit Ransmayrs aktuellem Thema zu tun, das seinen jüngsten Roman "Cox oder Der Lauf der Zeit" dominiert. "Cox" ist die kühne poetische Durchmessung eines ebenso allgegenwärtigen wie unerklärlichen Phänomens. Zehn Jahre nach dem Sprechgesang-Epos "Der fliegende Berg" ist "Cox" erst der fünfte Roman des Schriftstellers, der nach Jahren in Irland wieder in Wien lebt und arbeitet.
Ransmayr, 62, hochgewachsen, dunkle Kleidung, große Hände, spät ergraute Haare, betritt das Wiener Innenstadt-Café mit den oxidierten Wandspiegeln. Er lässt sich langsam auf der weinroten Couch nieder, es dauert ein wenig, bis er bequem sitzt. Klackern der Kaffeemaschinenkolben im Hintergrund, gedämpfte Gespräche an den Nebentischen. Ransmayr formuliert vorsichtig und sorgfältig, oft mit vor der Brust verschränkten Armen.
INTERVIEW: WOLFGANG PATERNO
profil: Wann schauen Sie zum ersten Mal auf die Uhr? Sofort nach dem Aufstehen? Christoph Ransmayr: Selten. Ich lebe möglichst nicht mit Blick auf die Uhrzeit und versuche, so gut es eben geht, mich vom Lauf der Zeit nicht unter Druck setzen zu lassen. An Uhr und Kalender orientiere ich mich nur, wenn der Tag Termine, Verabredungen, eine Fahrt zum Flughafen bringt.
profil: Sie sind also Herr Ihrer Zeit? Ransmayr: Im Grund, ja. Aber auch meine Zeit verfliegt gelegentlich in Wellen. Gegenwärtig sind Verabredungen einzuhalten, Gespräche zu führen, Lesungen vorzubereiten. Deswegen schaue ich derzeit öfter als sonst auf die Uhr. Trotzdem komme ich immer wieder zu spät. Wer sich einmal daran gewöhnt hat, alle verfügbare Zeit für sich zu haben, nimmt Termine manchmal nicht ernst genug.
profil: Über Ihrem neuen Roman "Cox oder Der Lauf der Zeit", in dem der 1799 verstorbene Kaiser von China und ein englischer Uhrmacher ein ungleiches Paar bilden, schwebt die Feststellung, dass mit jedem Blick auf die Uhr die Lebenszeit kürzer wird. Ein furchtbarer Gedanke? Ransmayr: Die Kostbarkeit dessen, was wir Zeit nennen, wird dadurch zumindest bewusster. Als Konsequenz wird man mit seinen Stunden, Tagen, Minuten sparsamer, gelegentlich sogar geizig.
Aber das Bewusstsein von der Unwiederbringlichkeit des Augenblicks ändert auch den Wert der Zeit: Was immer ich mache oder nicht, wird bedeutsamer, zumindest sinnvoller.
profil: Sie sind 62. Was stellt der Gedanke an das unaufhaltsame Verstreichen der Zeit noch mit Ihnen an? Ransmayr: Manchmal überkommt mich natürlich so etwas wie Wehmut, wenn ich die lange Zeitspanne, die bereits hinter mir liegt, mit jenem schrumpfenden Abschnitt vergleiche, der bestenfalls noch folgen wird. Aber das Bewusstsein von der Unwiederbringlichkeit des Augenblicks ändert auch den Wert der Zeit: Was immer ich mache oder nicht, wird bedeutsamer, zumindest sinnvoller. Je älter ich geworden bin, desto heller ist in dieser Hinsicht das Leben geworden.
profil: Sie verschwenden Ihre Zeit überhaupt nicht mehr? Ransmayr: Und wie! Stunden, ganze Tage rutschen mir manchmal durch die Finger. Ich gehe nun aber nicht in ein Ecklokal, um mir dort ein TV-Fußballspiel anzusehen, weil ich nichts Besseres zu tun hätte oder vor der Arbeit flüchte, sondern weil ich genau das tun möchte. Dann wiederum sitze ich stundenlang einfach da, an einem Seeufer, an irgendeiner Küste oder irgendwo oben in den Bergen. An solchen Tagen vermeintlicher Zeitverschwendung stellen sich nicht selten Gelassenheit und Glück ein.
Ransmayr sei, bemerkte John E. Woods, der englische Übersetzer einiger Romane des Autors, ein "lustiger, sprühender Mensch". Nicht immer jedoch. Ransmayr selbst verweigert so gut wie jede Auskunft über sein Privatleben. Er ist so etwas wie die lebende Gegenthese zur ungezügelten Verlautbarungskultur auf Facebook und zum Ich-Kult im Twitter-Takt. Er hat früh damit begonnen, um sein Leben abseits seines öffentlichen Schriftstellerdaseins einen blickdichten Sperrbezirk einzurichten, in den nur Ausgewählte Zutritt haben. Wer dennoch Blicke dahinter wagt, darf mit dem jäh emporlodernden Groll des Romanciers rechnen. Als eine Art Lehrer Lämpel unter den Literaten weist er schneidend und umgehend jeden zurecht, der seiner Auffassung nach die Grenze zur Privatheit überschritten hat. Über sein Leben streut er in Interviews und Gesprächen allenfalls Brosamen.
Als Kind hatte er Angst vor der Dunkelheit; sein Schulweg verlief an einem Ufer des Traunsees, am gegenüberliegenden Gewässerrand lag der Steinbruch von Ebensee, das ehemalige Außenlager von Mauthausen. Der junge Ransmayr überstellte als Aushilfsfahrer Limousinen in den Nahen Osten, grub mit Schaufel und Spitzhacke Fundamentlöcher für Hochspannungsmasten und arbeitete als Reiseleiter. Er schätzt Bob Dylan und ist ein begeisterter Wanderer, Bergsteiger und Fernreisender. Er schreibt mit Laptop und Bleistift, kritzelt grundsätzlich nur Stichworte in brusttaschengroße Notizbücher. Seine Wohnung liegt hoch oben wie ein Adlerhorst in einem Wiener Altbau. Auf Ransmayrs Website sind im Unterpunkt "Leben " zwölf Zeilen angeführt, eineinhalb davon betreffen die eigentliche Biografie des Autors, der Rest ist Werkgeschichte: "Christoph Ransmayr, geb. 1954 in Wels/Oberösterreich, studierte Philosophie und Ethnologie und lebt in Wien."
profil: In "Cox" ist viel die Rede von "Unendlichkeit" und "Ewigkeit". Sind das adäquate Begriffe, um das Übermaß an Zeit zu fassen? Ransmayr: "Unendlichkeit" oder "Ewigkeit" sind im Zusammenhang mit unserer Vorstellung von Zeit nur Hilfsworte, recht armselige sogar, weil sie eine Art grenzenloser Überfülle beschwören. Astrophysiker und Quantenmechaniker nähern sich dem Phänomen viel exakter und gleichzeitig phantastischer -im Wortsinn metaphysischer als die meisten religiösen oder philosophischen Versuche. Ewigkeit bedeutet keine Überüberüberfülle.
profil: Was dann? Ransmayr: In der Volksschule erzählte uns ein Kapuziner, der gerne und ziemlich viel Bier trank, die Geschichte von dem Vogel, der seinen Schnabel an einem gewaltigen Gebirgsstock wetzt: Wenn dieses Vöglein das gesamte Massiv zu Staub zermahlen habe, sei erst eine einzige Sekunde der Ewigkeit vergangen. Ewigkeit wird ja oft mit Fülle verwechselt, dabei ist das Gegenteil der Fall. Die Unendlichkeit ist das Ende von allem, was wir mit der Zeit verbinden.
profil: Es gibt für alles ein erstes Mal. Lässt uns das schiere Vergehen der Zeit im Lauf des Lebens dennoch abstumpfen? Ransmayr: Im günstigeren Fall ist es eher so, dass die Fülle zunimmt. Die Lichtbahn in einem morgendlichen Schlafzimmer, das Gewitter über den Dächern einer Stadt, ein Venusdurchgang, den ich mit dem Teleskop von einem Flachdach aus in Wien beobachte, oder das Zusammensein mit geliebten Menschen: All das sind Momente, von denen man glaubt, man wäre bereits mit ihnen vertraut. In Wahrheit sind diese besonderen Augenblicke aber wie Fingerabdrücke der eigenen Lebenszeit. Jeder Moment, jeder Anblick, jeder Ton ist unverwechselbar.
Die meisten Worte stehen für Idealzustände.
profil: Menschen können aber gemeinhin nur mit zehn unterschiedlichen Fingerabdrücken aufwarten. Ransmayr: Wer Augen und Ohren offenhält, wird selbst in vertrauter Umgebung einen unablässigen Strom von Eindrücken erfahren, die er noch nie erlebt hat. Darüber verfliegt der Glaube an bloße Wiederholung und Routine.
profil: Beschreiben Sie nicht eine allzu ideale Sicht der Welt? Ransmayr: Die meisten Worte stehen für Idealzustände. Wer hat denn etwas wie Licht in seiner ungeheuerlichen Komplexität je gesehen, je erfahren? Wir nehmen immer nur Bruchteile wahr, aber immerhin unsere Bruchteile. Jede Beschwörung des Wiedersehens und der scheinbaren Wiederholung ist eine Täuschung. Als Reisender oder Tourist wird man beispielsweise in vielen Fällen die eben erst entdeckte Stadt oder den Landstrich nie mehr wiedersehen, auch die neue, eben gemachte Bekanntschaft an irgendeiner Küste vermutlich niemals wieder. Alles andere, als Lebwohl zu sagen, wäre ein falscher Trost. Das macht einem, würde Herbert Prohaska sagen, natürlich manchmal wehmütig.
profil: Goethe formulierte, es gebe "kein Vergangenes, das man zurücksehen dürfte, es gibt nur ewig Neues". Ransmayr: Die Gegenwart, die ja selbst etwas Hochfiktives ist, weil wir nie in ihr leben, verändert sich, wenn ich mir bewusst mache, dass jeder Augenblick, sobald er durchlebt ist, Vergangenheit und jeder Abschied in gewissem Sinn einer für immer ist. Natürlich wird jede ideale Haltung der Welt gegenüber von Alltagsplagen, Krankheiten, Depressionen, Verlusten punktiert und durchlöchert, von seriellen Beeinträchtigungen und Störfaktoren. Vielleicht können Yogis, Schamanen und Heilige solche Störungen ausschließen. Ich bin jedenfalls alles andere als ein Weiser.
Wie Ransmayr so gut wie jede Auskunft über seine Privatsphäre verweigert, geizt er auch mit Informationen über sein bislang in mehr als 30 Sprachen übersetztes Werk. "Ich langweile mich", stellte er in einem 2014 publizierten Kompendium über Person, Werk und Denken fest: "Im Reden über sich und die eigene Arbeit beginnt man sehr schnell zu rotieren." Christoph Ransmayr ist einer der besten Erzähler, den die deutschsprachige Gegenwartsliteratur kennt, ein Könner darin, seine Prosa als eine Art hochempfindliches Navigationsgerät zu benutzen, das den offenen, vielgestaltigen Blick auf die Welt erlaubt. Mit Ausnahme des Romans "Morbus Kitahara"(1995), der Ransmayrs Vater mitgewidmet ist und in dem die Konzentrationslager von Ebensee und Mauthausen zum Erzählimpuls wurden, verarbeitete der Autor in seinem Schreiben bislang keine biografischen Brüche, keine Themen "aus den Kellern meines eigenen Lebens", wie er in dem Band "Geständnisse eines Touristen" schreibt, einer inzwischen auf zehn Abschnitte angewachsenen, von Ransmayr als Herausgeber und Autor in Personalunion betreuten Reihe "Spielformen des Erzählens".
Ransmayrs Romane sind besondere Beispiele paradoxer Prosakunst: Sein Schreiben erzeugt Sog und Spannung - und reflektiert und thematisiert zugleich die Möglichkeiten und Voraussetzungen des Erzählens mit. Ransmayr ist ein gewissenhafter Beobachter, der sein Bild der Welt, das eigentliche Erzählmaterial, in eine Prosa ohne Schnörkel gießt. Gleichzeitig eröffnet diese Literatur der Genauigkeit neue Echo-und Imaginationsräume: Beschreibt Ransmayr einen kleinen Garten, lässt sich die Größe der Natur erahnen. Widmet er sich in "Cox" den Versuchen seines Protagonisten, der unaufhaltsam verstreichenden Momente mit der Konstruktion und dem Bau tollkühner Chronometer habhaft zu werden, umkreist Ransmayr das Rätsel der Zeit.
Jede Figur in "Cox" ist schneller Geschichte, als sie ihren Namen schreiben kann: Alister Cox, der englische Uhrmachermeister mit seiner früh verstorbenen Tochter und der darob stumm gewordenen Frau, der nach der Idee des chinesischen Kaisers in Pekings Verbotener Stadt Uhrenmodelle baut, genauso wie Cox' Auftraggeber Qiánlóng, der allmächtige Kaiser von China und "Herr der zehntausend Jahre".
Wie verläuft die Zeit für Liebende? Für Sterbende? Für ein Kind? Große Fragen, für die Ransmayr im Rauschen der Zeit neue Antworten findet: "Denn anders als die Geburt eines Menschen war die Verwirklichung einer mechanischen Idee in ihrer gesamten Vielfalt begreifbar, kontrollierbar und kein Rätsel, kein Wunder wie ein Kind, das in Wahrheit doch bereits mit seinem ersten Atemzug wieder zu sterben begann."
profil: In "Cox" ist der Uhrmachermeister angehalten, so etwas wie unterschiedliche Weltenuhren zu konstruieren, nach denen sich alles dreht. Haben Sie das Ticken der Welt bereits vernommen? Ransmayr: Nur sehr leise und aus großer Entfernung. Etwas näher kommt man dem Weltenticken in astronomischen Dimensionen. Der Abt im Benediktinerkloster Lambach verlegte in der siebten Klasse seine erste herbstliche Philosophiestunde in den späteren Abend. Wir Schüler standen dann, ein Glas mit goldgelbem Kaiserbirnen-Likör in den Händen, in einem der Klosterhöfe unter dem freien Nachthimmel. Er hat uns gefragt, was uns zum Anblick dieses vom Hof gefassten Himmelsrechtecks einfiele. Jeder hat natürlich sofort mehr oder weniger romantische Bemerkungen über die Sterne gemacht. Der Abt sagte dazu nur, dass der Blick zu den Sternen die einzige Möglichkeit sei, nicht nur in eine, sondern unzählige Vergangenheiten zu schauen. Dieses Himmelslicht zum Beispiel, sagte er und deutete auf einen für uns namenlosen Stern, sei zwei Millionen Jahre alt, jenes dort mindestens 20 Millionen, das nächste wieder leuchte seit "nur" vier Millionen Jahren. Jeder von uns sollte nun selbst entscheiden, ob der Blick aus dem Klosterhof einer in die Höhe oder hinab in die Tiefe des Raumes sei. Empor oder hinab, eure Entscheidung, sagte er, der Himmel kennt solche Richtungen nicht.
Jeder kennt kriechende, dahingleitende, scheinbar stillstehende Zeiten. Man geht mit virtuellen Ührchen und Weckern wie ein Christbaum behängt durchs Leben.
profil: Ein wahrlich weiser Lehrer. Ransmayr: Ein Menschenfreund jedenfalls und fern jeder Dogmatik. Hätte er nicht seine Kutte getragen, niemand wäre darauf gekommen, einen Kleriker vor sich zu haben. Die ungeheure Komplexität, die wir unter dem Begriff "Zeit" subsumieren, erahnen wir zumeist ja nur unter dem Aspekt der Alltagstauglichkeit: Würden wir unsere Stundenpläne etwa nach der Astrophysik richten, kämen wir zu unseren Terminen unter Umständen um Epochen zu früh oder zu spät.
profil: Wie der Uhrmacher Cox trägt auch jeder von uns unterschiedliche Uhren mit sich herum? Ransmayr: Jeder kennt kriechende, dahingleitende, scheinbar stillstehende Zeiten. Man geht mit virtuellen Ührchen und Weckern wie ein Christbaum behängt durchs Leben. Und Cox ist der Mann, der uns den Schmuck verkauft.
profil: Die Zeit vergeht mal schnell, dann wieder langsam: Das klingt wie eine Binsenweisheit. Ransmayr: Ich bin beim Schreiben durchaus von dieser Binsenweisheit ausgegangen -und immer wieder auf Binsenweisheiten gestoßen. Für sich allein ist etwa der Satz "Nütze den Tag" tatsächlich reichlich banal. Angewandt auf konkrete, einzelne Situationen des praktischen Lebens, kann er aber immer noch etwas bringen. Ich habe beispielsweise meine Tage genützt - und "Cox" so schnell wie noch keinen meiner Romane geschrieben. Natürlich ging dem Schreiben langes Nachdenken über die Erfahrungen voraus, die ich auf einer China-Reise gesammelt hatte, als ich die überwältigenden astronomischen Uhren des historischen Londoner Uhrmachers James Cox in Peking sah. Die tatsächliche Schreibzeit war im Vergleich dazu ziemlich kurz.
profil: Zeit also auch, einige Christoph-Ransmayr-Klischees zu zertrümmern. Sie schreiben Ihre Romane neuerdings in kurzer Frist? Ransmayr: Immer noch nicht in kurzer Frist, aber zügiger. Je älter ich werde, desto unabweisbarer wird auch, dass mir die Zeit voran-und davonzulaufen beginnt. Ich muss also meinen Ideen, auch dem Erleben, entschlossen hinterherkritzeln, um noch ein paar Geschichten zur Sprache zu bringen.
profil: Legen Sie immer noch so viel Wert auf die ersten Sätze Ihrer Texte? Ransmayr: Natürlich. Aber im Unterschied zu früher, als ich mit an Absolutheit grenzender Sicherheit wissen musste, wie der erste Satz exakt lautete, um überhaupt an den folgenden denken zu können, bevorzuge ich inzwischen ein freieres Spiel von Sätzen, die dazu taugen könnten, aus meinem Material einen roten Faden zu ziehen. Was das Schreiben anbelangt, empfinde ich mich nach wie vor als ziemlich neurotisch. Aber wenigstens von dem Tick der ersten Sätze und von dem Zwang, Zeile für Zeile bereits als Druckfassung schreiben zu müssen, habe ich mich mittlerweile etwas gelöst. Auch das hat mit simpler Zeitökonomie zu tun.
Ransmayr ist ein Virtuose der überraschenden Eröffnung. Fünf Romane, fünf Romananfänge: "Josef Mazzini reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern immer größer, so groß, dass er schließlich in ihr verschwand." ("Die Schrecken des Eises und der Finsternis", 1984) -"Ein Orkan, das war ein Vogelschwarm hoch oben in der Nacht; ein weißer Schwarm, der rauschend näherkam und plötzlich nur noch die Krone einer ungeheuren Welle war, die auf das Schiff zusprang." ("Die letzte Welt", 1988) - "Zwei Tote lagen schwarz im Januar Brasiliens." ("Morbus Kitahara", 1995) - "Ich starb /6840 Meter über dem Meeresspiegel /am vierten Mai im Jahr des Pferdes." ("Der fliegende Berg", 2006) - "Cox erreichte das chinesische Festland unter schlaffen Segeln am Morgen jenes Oktobertages, an dem Qiánlóng, der mächtigste Mann der Welt und Kaiser von China, siebenundzwanzig Steuerbeamten und Wertpapierhändlern die Nasen abschneiden ließ." ("Cox oder Der Lauf der Zeit")
profil: Ihr nächster Roman wird also für Ihre Verhältnisse schon sehr bald erscheinen? Ransmayr: Ich hätte nichts dagegen, alle zwei Jahre einen Roman zu einem guten Ende zu bringen. Aber das kann ich nicht, weil es nicht mein Tempo ist - und sich auch keines meiner Themen im Eiltempo abhandeln lässt. Ich schreibe schließlich nicht bloß darüber, dass ich 1,91 Meter groß und leicht übergewichtig bin.
profil: Thomas Bernhard verglich die Aktivität des Schreibens mit der Tätigkeit einer Putzfrau, deren Arbeit auch zwangsläufig besser würde. Ransmayr: Es ist durchaus sinnfällig, die Arbeit an der Sprache, die Verwandlung von etwas in Sprache mit harter Mühsal gleichzusetzen, trotz vieler zauberischer, magischer Momente. Schreiben hat manchmal tatsächlich viel von der Arbeit einer Putzfrau, die man allerdings nicht unterschätzen sollte.
Beim Schreiben müssen nicht nur Rhythmik und Melodie der Sätze stimmen, sondern vor allem die Wahl der erzählerischen Mittel.
profil: Sie führen Putzfrauengespräche? Ransmayr: Ich spreche nicht, ich putze. Es gibt viele Tricks, die man von Putzfrauen im Lauf der Zeit lernen kann. Jede Behausung ist schließlich ein eigener Organismus: Teppiche, Lackflächen, Nirosta, Holz und Fliesen, gebürsteter Stahl und vielfältiges Glas erfordern den komplexen Einsatz von Putz-und Scheuermitteln in flüssiger oder pulverisierter Form und die Beherrschung eines umfangreichen Instrumentariums.
profil: Die Frage wäre jetzt, wie Sie von hier aus wieder den Bogen zum Schreiben spannen. Ransmayr: Beim Schreiben müssen nicht nur Rhythmik und Melodie der Sätze stimmen, sondern vor allem die Wahl der erzählerischen Mittel. Natürlich sollte auch die geschriebene Sprache klingen, aber Klang oder Farbton sollten nicht im Vordergrund stehen. Es kommt ja nicht selten vor, dass man sich von schönen Worten treiben lässt und auf die eine oder andere Formulierung nicht verzichten mag, die dann der gesamten Geschichte einen falschen Spin verpasst. Mittlerweile bin ich erfahren genug, um zu wissen, worauf ich nicht nur verzichten kann, sondern verzichten muss.
Eine Anekdote berichtet über Gustave Flauberts legendäre Schreibängste. Bei einem Klassentreffen war einer der ehemaligen Schulkollegen wegen Grippe entschuldigt. Man übertrug dem berühmten Autor die Aufgabe, dem Kranken eine Grußkarte zukommen zu lassen. Flaubert zog sich stundenlang in ein leeres Zimmer zurück -und präsentierte nach langem Kampf die Karte, auf der "Gute Besserung!" zu lesen war. In dem Band "Die Verbeugung des Riesen", Teil der "Spielformen des Erzählens", proklamiert Ransmayr seine Poetik des Erzählens: "Die ersten Sätze. Mit den ersten Sätzen hat sich der Erzähler von der unendlichen Zahl aller Möglichkeiten einer Geschichte gelöst und sich für eine einzige, für seine Möglichkeit entschieden, und hat unter allen möglichen Schauplätzen, Zeiten und Personen seinen Platz, seine Zeit, seine Gestalt gefunden. Jetzt, endlich, quält ihn nicht mehr, dass der ungeheure Rest der Welt unausgesprochen, unerzählt an ihm vorübertreibt."
profil: Sie arbeiteten lange auch als Journalist. Vergeuden Sie Ihre Zeit mit dem Lesen von Klatschspalten? Ransmayr: Mich interessieren Geschichten aller Art, auch die vielen erlogenen, randständigen, die kleinen Abenteuer und Angebereien. Oft fliegen mir Meldungen aus der Rubrik "Vermischtes &Allerlei" zu. Man weiß ja nie sofort, ob es sich dabei um idiotischen Tratsch oder möglicherweise eine erschütternde Geschichte handelt.
profil: Jede Hollywood-Trennung zieht Myriaden an Meldungen hinter sich her. Ransmayr: Ich paddle nicht gezielt in dem via Internet und Medien gelieferten Nachrichtenstrom. Das wäre Zeitverschwendung. Wenn ich aber unversehens in ein Gestöber von Geschichten hineingerate - in Wartesituationen am Flughafen und Bahnhof oder in einer Arztpraxis -, versuche ich natürlich, die für mich interessanteste Story im Heuhaufen zu finden.
profil: Autoren erzählen häufig öffentlich von ihren Leidenskräften und Neurosen. Weshalb schweigen Sie fast eisern über Ihre Befindlichkeiten? Ransmayr: Weil ich davon nur Freunden, liebsten Menschen erzähle. Aber selbstverständlich ging und geht es auch in meinem Leben gelegentlich finster zu. Auch Selbsthass und Schuldgefühle sind mir recht vertraut - nur habe ich das nie zum Thema meiner Bücher gemacht.
Ransmayrs Mobiltelefon klingelt. Die bestellten Karabiner seien nun endlich eingetroffen, so die kurze Mitteilung eines Fachgeschäfts.
profil: Sie äußerten einst, Sie führten ein Leben als "Halbnomade". Sind Sie inzwischen sesshafter geworden? Ransmayr: Ich lebe und arbeite mittlerweile wieder gern in Wien. Es sind ja immer die Menschen, die einen Ort warm oder hell werden lassen. Es gab Zeiten - und die kehren periodisch wieder -in denen ich sieben, acht Monate oder länger pro Jahr unterwegs war und bin. Der Begriff "Halbnomade" passte aber nie so recht, weil ich auch auf Reisen immer wieder für kurz oder länger sesshaft wurde und werde. Für mich war der oftmalige Aufenthalt an der brasilianischen Regenwaldküste im Haus eines Freundes vielleicht ähnlich wie für den Wiener die Sommerfrische in Bad Aussee.
profil: Sind Sie auf Reisen glücklicher? Ransmayr: Das Reisen hat viel damit zu tun, dass man buchstäblich mit leichtem Gepäck unterwegs ist. Viel Gewicht bleibt dabei zurück. Die Dinge, die man in Kopf und Herzen trägt, natürlich immer ausgenommen. Das Kleinzeug jedoch, Wagenladungen voll Trash, vergisst man unterwegs, man vergisst sogar, wohin man diesen Wagen gestellt hat, vergisst, dass man ihn vergessen hat. Ja, das alles hat mit Glück zu tun.
Ich bin immer Tourist. Abenteuer lassen sich auch in jeder Gasse ums Eck erleben.
profil: Eine Sportreporterfrage: Welches Gefühl erzeugt bei Ihnen ein Sonnenaufgang an der brasilianischen Küste? Ransmayr: Ein sehr seltenes, weil ich um diese Zeit meist noch schlafe. Wenn ich aber am frühesten Morgen gelegentlich noch vor meinen Teleskopen sitze, sehe ich tatsächlich den Rand und das Ende der Nacht. Die Erinnerung an galaktische oder extragalaktische Bilder der vergangenen Nachtstunden, an die tiefste, von leuchtender Materie durchsprengte Finsternis, lässt einen dann ohnehin nicht mehr schlafen. Man bleibt wach und sieht der Sonne dabei zu, wie sie sich -vermeintlich - über den Horizont erhebt und mit ihrem geradezu explodierenden Licht zum Sternenfresser wird.
profil: Berge oder Meere: Wo treibt Sie Ihre Sehnsucht eher hin? Ransmayr: Am liebsten an gebirgige Küsten. In den irischen Macgillycuddy's Reeks oder im Taurusgebirge der südlichen Türkei ragen imposante, ja furchteinflößende Felswände auf. Meine ideale Landschaft besteht aus einem Gewirr von Graten, Hochflächen und Felstürmen, zwischen denen das Meer schimmert oder die weißen Zeilen der Brandung zu sehen, noch besser: zu hören sind.
profil: Sind Sie als Tourist, Grenzgänger oder Abenteurer unterwegs? Ransmayr: Ich bin immer Tourist. Abenteuer lassen sich auch in jeder Gasse ums Eck erleben. "Abenteurer" klingt souverän nach jemandem, der seine eigenen Kräfte und Fähigkeiten kennt und der Wildnis trotzt. Mir war das nie wichtig. Landschaften ohne Menschen haben mich stets nur als Übergänge, Wegabschnitte interessiert. Bedeutsamer war: Was kann ich vom Leben eines Hochträgers im westlichen Himalaya wissen? Was von der Arbeit eines Fischers im Tuamotu-Archipel im südlichen Pazifik? Egal, wie ich dort auftrete, man wird mir stets zu verstehen geben: Du bist ein Tourist. Im Vergleich zu einem Landesbewohner bin ich vor den Schauplätzen seines Lebens tatsächlich nur ein ahnungsloser Idiot.
profil: Pascal schrieb, der Mensch ertrage keine Ruhe, weil sie ihn zur Verzweiflung treiben würde. Reisen Sie auch deshalb? Ransmayr: Ich bin gegenüber vielen ausgewiesenen philosophischen Sinnsprüchen grundsätzlich misstrauisch. Kürzlich starb ein Onkel von mir, der lange als Kartäuser gelebt hatte, schweigend, betend, allein in einer Zelle. Das wäre für mich ein düsteres Dasein. Er dagegen hat stets gesagt, die Jahre in der Kartause seien die schönsten seines Lebens gewesen. Camus, ich glaube, es war Albert Camus, der dagegen und so ungefähr geschrieben hat: Lasst uns die Ruhe und den Frieden dort suchen, wo sie sich finden, nämlich inmitten der Schlacht.
In dem Band "Geständnisse eines Touristen" (2004) aus den "Spielformen des Erzählens" fordert der Autor: "Rühren Sie mich nicht an!" Dem Buch stellt Ransmayr als Motto die berühmte Sentenz Heinrich Heines voran, wonach er, Heine, die friedlichste Gesinnung und bescheidene Wünsche pflege -"ein großes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume". Wollte der liebe Gott Heine aber gänzlich glücklich machen, mögen an diesen Bäumen "etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden". Man landet als Kritiker schnell in Ransmayrs sogenanntem "Zwergenkalender". In "Geständnisse eines Touristen" schreibt er: "Denn wer sich mir aufdrängt, wer sich auf meine Kosten bedienen will und seinen Namen samt irgendeinem Schimpfwort oder einem sogenannten Verriss über eines meiner Bücher zu kleben versucht, dem wird von mir nicht widersprochen, der wird auch nicht bekämpft und nicht zurückbeschimpft, sondern einfach im Zwergenkalender archiviert und büßt durch seine Verbannung ins Reich des Kleinen zumindest an Größe ein."
profil: "Cox" erzählt auch Geschichten vom Sterben. Denken Sie jetzt schon an Ihren eigenen Tod? Ransmayr: Der Gedanke ist mit unterschiedlicher Intensität da, unabweisbar vor allem in Momenten des Ausgesetztseins, in der Nähe von geliebten Menschen, die mit dem Tod ringen, vergeblich dagegen gekämpft haben. In diesen Situationen ist man auch dem eigenen Ende nah wie sonst nie, weil man empfindet: Dieser Mensch stirbt nicht allein, ich sterbe in gewisser Weise mit, was er erleidet, ist meine Zukunft.
profil: Wann sind Ihnen diese Gedanken fern? Ransmayr: Paradoxerweise ist man oft gerade dort, wo vermeintliche Gefahren drohen -in der Wüste, im Hochgebirge, auf dem offenen Meer -, also an Orten, wo man mit dem Überleben beschäftigt ist, mit dem nächsten Schritt, mit der Suche nach Nahrung, Wasser, einem Schattenplatz, derart von Leben erfüllt, dass man sich für Momente unsterblich glaubt.
In "Geständnisse eines Touristen" notierte Ransmayr: "Wenn auf meiner Urne, einem Partezettel, einem Grabstein oder irgendeinem anderen Untergrund, der noch ein bisschen länger als ich selber bleiben darf, etwas zu lesen stehen soll, dann unter zwei Jahreszahlen und meinem Namen nicht mehr als Auf und davon."
profil: Der Blick in den Spiegel macht aber auch Sie sicher: Der Schnurrbart wird grauer, die Haut faltiger. Ransmayr: Wenn die Haare nur grau blieben! Aber sie werden ja leider nicht bloß grau und weiß, sondern verschwinden. Ich habe nie als Model gearbeitet, deshalb wurden Idealgewicht oder einwandfreie Haardichte nie zum Problem. Trotzdem möchte man natürlich einen einigermaßen erträglichen Eindruck machen, bis zu dem Tag, an dem man auf der Bahre oder im Sarg seiner endgültigen Zukunft entgegengetragen wird.
Man will vom eigenen Tod nichts spüren und nichts wissen. Trotzdem wünsche ich mir insgeheim vom Todeschristkind eine Parkbank, auf der ich vornüber sinken und in einer Rolle vorwärts in die Unendlichkeit kippen darf.
profil: Welche Todesart würden Sie bevorzugen? Ransmayr: Ich kann mich für keine so recht erwärmen. Manchmal denke ich dabei an meinen Vater, der ähnlich bewegungsbegeistert war wie ich, der gern kletterte, wanderte, schwamm. Er hatte große Angst davor, eines Tages an ein Bett oder den Rollstuhl gefesselt auf das Ende warten zu müssen. Er ist dann aber mitten in einem Gespräch gestorben. An einem strahlenden Sommertag auf einer Parkbank neben seiner Freundin.
profil: Er ist den gnädigen Sekundentod gestorben. Ransmayr: Und ohne Schmerz. Es war ihm zu vergönnen - so sehr mich sein Tod auch erschüttert und aus meiner damaligen Welt katapultiert hat. Ein solches Ende erscheint mir durchaus gnädig und wünschenswert. Aber auch aus diesem Wunsch spricht eine Form von Eskapismus: Man will vom eigenen Tod nichts spüren und nichts wissen. Trotzdem wünsche ich mir insgeheim vom Todeschristkind eine Parkbank, auf der ich vornüber sinken und in einer Rolle vorwärts in die Unendlichkeit kippen darf.
profil: Nach Ihrem Tod wird Ihr Leben von Biografen mutmaßlich durchstöbert werden. Eine Horrorvorstellung? Ransmayr: In jenem Nirgendwo, in das ich dann verschlagen werde, hat auch das keine Bedeutung mehr. Man stöbere also, wo und wie man will, es wird ein Stochern im Abfall bleiben. Ich habe bereits selber so viel wie möglich von dem, was keinen Fremden etwas angeht, vernichtet und hoffe, dass meine Frau Judith, wenn unser Schicksal es zulässt, den Rest erledigt. Würde mir zum Wunsch nach einem schnellen Tod noch ein Zusatz gewährt, würde ich sagen: Nach dem letzten Atemzug bitte einen anschließenden Wohnungsbrand, der das von mir in Regalen und Schränken hinterlassene Chaos bereinigt und bei dem, ausgenommen einige Staubmilben, niemand zu Schaden kommt.
Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit. S. Fischer, 303 S., EUR 22,70