„Führen wir hier ein Gespräch über mein Leben oder über mein sogenanntes Werk?“, fragt Helbich in ihrem Sessel keck. Ihre Bücher lassen sich, wenn man denn will, in drei Bereiche gliedern: „Schwalbenschrift“, „Das Haus“ (2009) und „Vineta“ (2013) sind autobiografische Berichte, gefolgt von „Schmelzungen“ (2015) und „Im Gehen“ (2017), ihren Aufzeichnungen über das Alter. „Wie das Leben so spielt“, ihr jüngstes Buch, wagt noch einmal Neues: Helbich erzählt mit einiger Lust am Dunkeln fiktive Mord- und Selbstmordepisoden. „Wie das Leben so spielt“ ist, wie sie sagt, ihr letztes Buch.
Zehn und noch mehr Leben
Wie das Leben und Schreiben unter einen Hut bringen? Diese Frage gehört zu ihrer Geschichte. „Einige Male wechselte ich energisch und gewissermaßen begleitet von Eruptionen meinen Stand und Standpunkt. Je nachdem, wie man sein Dasein einteilt, könnte man natürlich auch von zehn und noch mehr Leben sprechen. Jeder meiner Lebensabschnitte war intensiv und völlig anders gepolt. Auf das Schreiben, das mir immer wichtig war, musste ich lange verzichten, weil ich Kinder hatte, die mich brauchten. Zugleich blicke ich auf lange Abschnitte zurück, in denen das Schreiben im Mittelpunkt stand. Inzwischen ist es für mich Vergangenheit.“
Helbich führt das Leben in ihren Büchern als undurchschaubares Geknäuel vor, in dem die Illusion von Ordnung herrscht. „Erwarte jeden Tag eine neue Katastrophe“, notiert sie in „Schmelzungen“.
„Jedes Leben ist schwer – mit ununterbrochenen Zwischen- und Unglücksfällen“, sagt sie in ihrem Döblinger Refugium. „Von der Nähe aus betrachtet, kann das Leben sehr bösartig sein. Ich habe kein idyllisches Bild vom Alter. Genau das beschreibe ich in meinen Büchern.“
Helbich nippt am Ingwersalztee. „Den biete ich Ihnen nicht an!“ Wenn man ihre Bücher gelesen hat, dann ist die Irritation nicht gering, Helbich so oft „ich“ sagen zu hören. Sie sagt: „Ich schreibe in der dritten Person. In meinen Büchern bin ich ein Spiegel, der aufnimmt. Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux beschreibt, stets Ich-zentriert, die Umstände ihres Daseins, das ihr mit dem Schreiben klarer wird. Mir dagegen geht es nicht um mich selbst – deshalb die dritte Person. Viele meiner Geschichten würde ich in der ersten Person nie erzählen, weil sich dadurch das Gefühl einstellte, ich gäbe mich selbst preis. In der dritten Person war ich ziemlich mutig.“
Es ist ein schön-spröder Ton, der Helbichs Geschichten oft beherrscht. Sie umreißt in ihren Büchern eine von Wohlgefühlsdiktaten und Happy-End-Gebot befreite Welt. „Wüstentage, um mich nichts als Öde“, schreibt sie in „Anderswohin“. War ihr oft langweilig? „Mein Leben war immer ausgefüllt. Mit 100 erst lerne ich das kennen, was für viele andere ‚Langeweile‘ heißen könnte. Für mich ist das Leben nicht langweilig, obwohl ich die Möglichkeit verloren habe, mich meditativ zu konzentrieren: Das kann ich nicht mehr, dazu bin ich innerlich zu unruhig. Altersgelassenheit kenne ich nicht. Auf Wunsch meines Verlags schrieb ich einst ein Buch über die Gelassenheit. Dieses Buch ist mein Fluch. Sobald ich aufbrausend reagiere, ermahnen mich meine Kinder, die teils selbst schon in Pension sind: ‚Mutter, du hast ein Buch über die Gelassenheit geschrieben!‘ Das finde ich hundsgemein.“ Kurze Pause, breites Schmunzeln.
Frühe Erinnerungsbilder
Helbich kann großartige Geschichten erzählen, ohne Äh oder Ähm. Ein ganz frühes Erinnerungsbild? „Ich stamme aus einer Unternehmerfamilie mit einer Baufirma. Ich erinnere mich an eine Zeit ohne Lastkraftautos, in der Pferdewagen zu den Baustellen fuhren. Jeden Abend, wenn die Pferde schon ausgespannt waren und ihre Haferportion fraßen, schlich ich in einen der Ställe, in dem zwölf Tiere untergebracht waren. Ich schwang mich mithilfe der Haferkiste auf einen hohen Fenstersims, saß dort oben ganz allein, hie und da das Geräusch, wenn Fliegen gegen das Fenster klatschen. Ich saß im Stall und sah den Pferden beim Kauen zu. Manchmal drehte eines der Tiere seinen Kopf in meine Richtung, blickte mich an. Leise klapperte das Geschirr an seinem Kopf. Da war ich vielleicht elf, zwölf. Das war ein Augenblick, der eine Art Transparenz aufwies: Wenig später traf sich die Familie zum formellen Abendessen. Ich ging vom Stall nach Hause, zog mich um – war gefühlsmäßig aber noch immer im Stall.“
Im Strom ihrer Erinnerungen muss sie nicht lange nach Bildern suchen, die mit dem Abstand der Jahrzehnte nichts von ihrer Farbe verloren haben. „Es liegt in meiner Natur, mich leicht in zeitlich weit entfernte Geschehnisse wieder hineinbegeben zu können. Zu meinem 100. Geburtstag bekam ich viel Post, darunter Glückwünsche von Menschen, die ich vor 40 Jahren gekannt hatte. Der Rekord waren 65 Jahre, ein damals fünfjähriger Bub, der inzwischen 70 ist.“
In die Anderswelt
Noch ein Erinnerungsmoment, bitte! „Wir stehen vor unserem zerbombten Haus in Wien. Vor den Bomben war es ganz, nun ist es gleichermaßen quer durchgeschnitten, ein Teil fehlt. Die Vorhänge hängen auf den Bäumen quer gegenüber in der Allee. Es sind Standbilder, die sich nicht bewegen. Bei dem Schriftsteller Ernst Jünger fand ich eine Parallele: Er beschreibt, wie er als Soldat in das besetzte Holland kommt und wie die Menschen dort panisch davonrennen, die Kühe in den Ställen brüllen. Die Häuser stehen offen, die alten Leute, die nicht fliehen konnten, liegen in ihren Betten. Jünger beschreibt das – bis zu jenem Augenblick, wo er nicht mehr allein die Fakten sieht, sondern das Bild selbst bedeutungsvoll wird. Als ob es etwas anderes meinen würde, eine Art Durchblick, als ob der liebe Gott plötzlich die Welt sehen würde, jener liebe Gott, der in meinem Leben übrigens nie vorkam. Es ist gerade so, als ob jemand vom Mond herab einen Blick auf unsere Welt erhaschen würde, aber ohne jegliche Beweggründe und Kausalitäten: Der Mann vom Mond sieht ein Bild – und das Bild ergibt für ihn Sinn.“
In „Schmelzungen“ schreibt Helbich von der „Anderswelt“. Der Schriftsteller Stendhal wusste, dass jeder stirbt, so gut er kann. „Die letzten Dinge?“, staunt Helbich. „Ich empfinde eine Gewissheit, die vom Pferdestall meiner Kindheit herrührt: Ich bin irgendwie gut aufgehoben. Ich habe, wie alle alten Leute, Angst vor dem Sterben. Es gibt aber etwas, wo alles aufgehoben ist, das sich am Ende als sinnvoll erweist. Das aber ist kein lieber Gott. Wenn überhaupt eine höhere Macht existiert, ist sie unerkennbar und undurchschaubar. Viele meiner Texte leben von dieser Erfahrung. Das können wir so stehen lassen.“