Einen Vogel haben
Wir benötigen eine unverbrauchte Sprache für den Ausnahmezustand. Kalenderspruchweisheiten wie „Wir haben die Erde nur geliehen“ haben ausgedient, die klassische Langform ist um nichts besser: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“ Schlimm auch das Bild von der Uhr, die auf Ewigkeit „fünf vor zwölf“ anzeigt. Der Kipppunkt ist erreicht – vom Wert der Kohlenstoffdioxidpartikel in der Erdatmosphäre über den ansteigenden Meeresspiegel bis hin zu den seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gemessenen Höchst- und Niedrigtemperaturen und den hochgerechnet fast schon stündlich aussterbenden Pflanzen- und Tierarten. Welche Sprache dafür finden?
Die Berliner Autorin und Buchgestalterin Judith Schalansky, 44, hat sich in dem jüngst erschienenen Bändchen „Schwankende Kanarien“ (Verbrecher Verlag) auf die Suche nach einer solchen gemacht – respektive dringend notwendige Überlegungen angestellt, welche Erzählmuster und Begrifflichkeiten uns angesichts der ökologischen Krise noch zur Verfügung stehen. Wir harren am Rand der großen Schwärze, blicken ins Fast-Nichts. Es brauche, so Schalansky, „eine Lösung, einen Wendepunkt der Handlung. Aber wie sollte der aussehen?“
Ausgerechnet ein kleiner gelber Vogel entpuppt sich als möglicher Helfer in der Not, keineswegs als deus ex machina (wir befinden uns noch immer in der Realität, nicht in Hollywood), sondern als mehr als brauchbare Eventualität, neue Erkenntnisse zu Tage zu fördern. Im englischsprachigen Raum ist das Idiom „canary in the coal mine“ weit verbreitet: Kanarienvögel wurden einst von Bergbauarbeitern mit in die lichtlose Tiefe der Erde mitgenommen, um die Gefahr von Kohlenmonoxid, dem farb-, geruchs- und geschmackslosen Gas, das den Sauerstoff im Menschen und bei größeren Landsäugetieren blockiert und zum Tod führt, frühzeitig anzuzeigen. Kanarienvögel sind für toxische Gase überaus empfindlich. „Bevor ein Kanarienvogel von der Stange fällt, fängt er an zu schwanken“, schreibt Schalansky: „Bevor ein System endgültig kippt, gibt es oft starke Amplituden: Populationen nehmen zu und ab, Messergebnisse werden uneindeutig und trüben das ohnehin diffuse Bild.“ Es trete dann oft ein, was ein Bild, das ohne viel Hinterfragen auskommt, so in Szene rücke: „when shit hits the fan“. Wenn die Scheiße auf den Ventilator trifft, eine Begebenheit also eine buchstäblich unberechenbare Kette von Ereignissen nach sich zieht. „Schwankende Kanarien“ hat natürlich nicht den Anspruch, die Welt zu retten. Aber Nachdenken über mögliche Szenarien, wie wir die Kurve dennoch kratzen könnten, wird man wohl noch dürften. Aber besten gemeinsam mit Judith Schalansky.
Schon vor vier Jahren bemerkte Frank Bainimarama, damals Premierminister von Fidschi: „Wir weigern uns, die sprichwörtlichen Kanarienvögel im Kohlebergwerk der Welt zu sein, wie wir so oft genannt werden.“ Und weiter: „Wir wollen mehr von uns selbst, als hilflose Singvögel zu sein, deren Forderung als Warnung für andere dient.“