Es heißt hier oft, das Unterfangen der Kulturhauptstadt werde unter zu viel Tamtam wie eine Weltsensation präsentiert. Einige lassen in der Pfarrgasse in schnellen Worten das Bild eines Dampfschiffs auf offener, windgepeitschter See entstehen. Im Salzkammergut ist stets bereitwillig die Rede von Berg, See und Wetter, auch wenn damit, wie gerade jetzt, Kunst und Kultur gemeint sind. Begrenzte Begeisterung auch in der Trafik gegenüber dem Bahnhof, wo die Sommerfrischetouren Kaiser Franz Josephs begannen und endeten. Eine Kundschaft mit silbergrauem Haar zieht ein erstes Resümee. „Mir haben hier so viel“, entrüstet sich die Frau mit sympathischer Bockigkeit. „Und nix davon spielt eine Rolle.“ Es sei eben so, wie es sei, tröstet die Verkäuferin.
Lokalpatriotismus versus Weltläufigkeit
Die Bruchlinie zwischen Bejahung und Ablehnung verläuft grob zerklüftet. Kulturhauptstadt? Das heißt in Bad Ischl immer auch Lokalpatriotismus gegen Weltläufigkeit. Dickköpfigkeit trifft auf Offenheit, störrischer Traditionalismus prallt auf sprühende Avantgarde. Viele Gespräche in Bad Ischl enden mit dem Hinweis, dass im Salzkammergut Widerspruchsgeist und Rechthaberei, wenn schon nicht erfunden, so doch entscheidend groß gemacht wurden.
Eher versteckt präsentiert sich die Hauptausstellung in einer Seitengasse. Im revitalisierten Sudhaus, wo einst Salz verarbeitet wurde, ist die Jahresschau eröffnet. Alles Salz: Der Japaner Motoi Yamamoto mit seinen filigranen Landschaften und der deutsche Bildhauer Michael Sails-torfer, der 32 aus Steinsalz gemeißelte Zähne in robuster Größe zeigt, verleihen dem weißen Gold – aka Salz, worauf es hier fast immer hinausläuft – unerwarteten Glanz. Der Berliner Norbert W. Hinterberger schickt einen aus Brot fabrizierten Panzerkreuzer auf Reisen, das Wiener Künstlerduo Nicole Six und Paul Petritsch verliert in einer Videoinstallation den Boden unter den Füßen. Salz und Eiseskälte in weitläufiger Halle, dazu eine Schau über die Salzgewinnung als lieblos aufbereitete Historienfolklore. Wie bestellt und nicht abgeholt wirken die verspielten XXL-Plastiken der slowenisch-österreichischen Künstlerin Maruša Sagadin im benachbarten Postgebäude. Als hätten Riesen die Lust daran verloren.
Wäre man angehalten, eine Kulturhauptstadtformel für das Salzkammergut zu erstellen, könnte man auf die Schnelle auf jene Gleichung zugreifen, die auf einem der schwarzen Stahlträger im Sudhaus hoch über den Köpfen prangt. „z+h+m-√x+y = D.+ St“ verkündet die von unbekannt aufgesprühte Nonsens-Rechnung, die mit der laufenden Ausstellung offenbar nichts zu tun hat. Das Salzkammergut als Kulturhauptstadt ist eine Kalkulation mit vielen Variablen und (noch) vagem Ergebnis, zugleich ein Lehrstück über die Möglichkeiten, die Kunst und Kultur eröffnen. Zu den vielen Unbekannten der Salzkammergut-Formel auf dem Stahlstück im Sudhaus gehören bis auf Weiteres diese: Wie wird der Publikumszuspruch für die rund 300 geplanten Einzelprojekte in der gesamten Region ausfallen? Erfährt die bis Ende 2024 fortdauernde, mit 30 Millionen Euro budgetierte Aktion öffentliche Anerkennung – oder Ablehnung? Woher rührt das fast schon greifbare Fremdeln der Menschen hier Elisabeth Schweeger gegenüber, der Intendantin des Großprojekts? Werden Theorie, Theater und Zartbitterpraline, Lodenjanker und Literaturevents gedeihliche Mesalliancen eingehen? So viel scheint nach gut einer Woche im Kulturhauptstadtjahr festzustehen: Es wird für alle Beteiligten eine Herausforderung vom Allerfeinsten werden.
Herz und Wärme
Feines in Ton und Bild bereits im Lehár Theater, über dessen Weiterverwendung nach Ende des Kulturhauptstadtjahres ebenso wie in Sachen Sudhaus allenfalls
Vages in Erfahrung zu bringen ist. Das „Ballet Mécanique“, realisiert vom Grazer Komponisten Winfried Ritsch, vereinigt im Lehár Theater Technik und Film mit Pianos, Schlagwerken und Glocken. Vor 100 Jahren scheiterten der französische Filmkünstler Fernand Léger und der US-Komponist George Antheil am kühnen Plan eines
Maschinenorchesters. Im Lehár Theater ist das „Ballet Mécanique“ erstmals zu hören und zu sehen: Es klimpert, schlagwerkt und gongt wie von Zauberhand, in schönstem Gleichklang mit Légers gleichnamigem Stummfilmklassiker auf großer Leinwand.
Gegen Ende der Ischler Tour finden sich jene Spurenelemente, an denen es der Kulturhauptstadtformel noch mangelt. „Sie alle geben mit viel Liebe ihr Allerbestes!“, ist in Kreideschrift auf schwarzer Schiefertafel in einem Nebentrakt des Ischler Bahnhofs zu lesen: „Bitte habt in Stresssituationen etwas Geduld! Bussis.“ Womöglich ist es genau das, was dem Kulturhauptstadtprojekt noch fehlt, was als Teillösung nie schadet: Herz und Wärme.
Der TV-Koch Christoph Held, 1985 in Bad Goisern geboren, hat als Teil des Kulturjahres gemeinsam mit 18 Auszubildenden der Bad Ischler Tourismusschulen im Bahnhof Quartier bezogen. Held, den alle nur „Krauli“ rufen, vom Typ her Rock’n’Roll-Küchenchef, leitet neben seinem Bad Ischler Stammlokal „Siriuskogel“ das „Genusslabor“, ein eigens hochgezogenes Bahnhofsrestaurant, das, wenn es nach Held geht, weit über das Kulturjahr hinaus geöffnet haben soll. „Wichtig ist, dass etwas passiert“, sagt der Kochtopfpragmatiker Held. Im „Genusslabor“ ist einiges passiert. Der Versuch, den hier allerorts spürbaren Spagat zwischen Kunst und Volkskultur, Moderne und Tradition, Kaiser-Seligkeit und Urbanität zu schaffen, verfolgt einen bis aufs Klo. Der Ebenseer Künstler Jakob Kinz hat für das „Genusslabor“ das erste non-binäre WC des Salzkammerguts erfunden. In Anlehnung an die Haupt- und Staatsaktion Sudhaus hat er es „Sudlhaus“ genannt. Wärme und Witz drinnen. Draußen auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof herrscht kühle Aktivität. Ein Polizist schreibt ein Strafmandat, weil Helds Auto in der Kurzparkzone steht. Das sei mit der Bürgermeisterin so ausgemacht, erklärt der Koch im Türrahmen des „Genusslabors“. Behördliches Achselzucken. Held nimmt’s mit Gelassenheit.