Was mir, wann immer sich „die Dinge“ für mich besonders ausweglos oder unlösbar anfühlen, verlässlichen Trost verschafft. Es beginnt mit Darwin.
24.12.23
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Ein unsere komplexe Weltlage zusammenfassender, das turbulente, gewaltgetränkte Jahr abrundender und ein mögliches Licht am Ende des Tunnels skizzierender Textbeitrag? Das ist nicht schwer. Man gehe los und helfe irgendeiner Person, die es braucht. Das ist der ganze Text. Nun, da die thematische Vorgabe für den Artikel bereits vollständig erfüllt ist, kann ich darüber hinaus noch etwas erzählen, das mir, wann immer sich „die Dinge“ für mich besonders ausweglos oder unlösbar anfühlen, verlässlichen Trost verschafft. Es beginnt mit Darwin, allerdings nicht Charles, sondern seinem Großvater Erasmus Darwin. Dieser hatte, wie ich eines Tages sehr verblüfft war zu erfahren, Ein seinem Werk Zoonomia (1796) bereits einige der evolutionstheoretischen Konzepte seines Enkels vorgedacht und durchgespielt. Er war außerdem Erfinder und erfand etwas ganz Wunderbares: die horizontale Windmühle. Daneben auch noch ein verbessertes Achsensystem für Kutschen, eine Taucherglocke, einen mechanischen Vogel und eine Sprechmaschine. Aber hier nun jenes Detail aus seinem umfangreichen Werk, das mir immer wieder tröstlich durch den Kopf geht. Eines Tages, so berichtet Erasmus Darwin im ersten Band der Zoonomia, habe er ein quadratisches Blatt Papier zuerst gelb angemalt und dann in dessen Mitte mit einer blaufarbenen Tintenfeder das Wort BANKS geschrieben. „Mit dem Rücken zur Sonne sitzend fixierte ich nun meinen Blick auf das N in der Mitte des Wortes. Als ich meine Augen schloss und zusätzlich mit beiden Händen beschattete, konnte ich das Wort sehr deutlich in gelber Schrift auf blauem Hintergrund ausmachen; und dann, als ich meine Augen wieder aufmachte und eine gelbliche Mauer in einiger Entfernung anschaute, erschien der Name BANKS, riesenhaft vergrößert, in goldenen Lettern auf die Mauer geschrieben.“ In der auf Google Books kostenlos lesbaren Ausgabe der Zoonomia findet sich sogar eine Illustration der Versuchsanordnung.
Zuerst stellt sich natürlich die Frage: Warum gerade dieses Wort: BANKS? Darwin verrät es im Text nicht. Aber es muss wohl Joseph Banks damit gemeint gewesen sein, ein damals weltberühmter Naturforscher und Abenteuerreisender, mit dem Erasmus Darwin in regem Briefaustausch stand. Aber warum sich nicht als Versuchswort für den anmutigen Netzhaut-Nachbild-Effekt eine viel freudigere Buchstabenfolge wie zum Beispiel GOATS wählen, oder meinetwegen ANGELS? Oder warum nicht gleich GOD? Er hätte in den blauen Himmel blicken und dieses edle Wort darin lesen können, kilometerlang. Aber nein, er wählte lieber BANKS. Warum?
Ein Blick in die Reisejournale von Joseph Banks zeigt uns eine mögliche Antwort. Banks befand sich auf dem Schiff von James Cook, der HMS Endeavour, als dieses 1770 an der Botany Bay im Südosten Australiens entlangfuhr. Banks beobachtete vom Schiff aus die Einheimischen an Land, die noch nie im Leben Europäer, geschweige denn ein riesiges Schiff gesehen hatten, und ihm fiel etwas höchst Sonderbares auf: „Unser Schiff fuhr eine Viertelmeile von ihnen entfernt vorbei, und sie hoben kaum den Blick, um uns zu betrachten.“ Er beschreibt eine von ihren Kindern begleitete Mutter, die das fremdartige Schiff nur für einen Moment anzublicken scheint, aber sich dann gleich wieder ihren alltäglichen Verrichtungen zuwendet. Banks kann es kaum fassen, dass diese Leute etwas so vollkommen Neuartiges wie das Schiff einfach ignorieren. Erst später, als die Mannschaft an Land geht, werden sie bemerkt und von bewaffneten Männern in Empfang genommen. Diese Episode wurde von manchen so gedeutet, dass die australischen Ureinwohner ein Schiff tatsächlich nicht sehen konnten, weil es über ihre konzeptuellen Begriffe ging. Das ist freilich Unsinn. Eine viel wahrscheinlichere und durch verschiedene Quellen inzwischen gut belegte Deutung ist, dass das Vorüberziehen des Schiffs von den Menschen an Land, die dem Aboriginalstamm der Tharawal angehörten, für einen Besuch aus dem Jenseits gehalten und deshalb nicht direkt angeblickt wurde. In der Tharawalkultur besteht ein gewisses Blick-und Interaktionstabu gegenüber Geistererscheinungen.
Erasmus Darwins Versuch, etwas Neuartiges sichtbar zu machen, erinnerte mich an mein eigenes „Malen mit der Netzhaut“, das ich früher oft unternommen habe. Denn etwa ab dem Jahr 2013 hatte ich eine unerklärliche farbige Stelle im Sichtfeld des linken Auges, die alle anderen Dinge verschluckte, aber nicht vollkommen unsichtbar machte. Gedruckter Text wurde an dieser Stelle unlesbar, ein Wort verlor die inneren Buchstaben. Es war ganz eindeutig nicht der normale blinde Fleck im Auge, dessen Position man mit bekannten Selbsttests leicht bestimmen kann, nein, dieser blinde Fleck lag an einer ganz anderen Stelle. Eine kleine Blutung? Ein Mikroinfarkt? Niemand wusste eine Antwort. Mit der Zeit kamen immer mehr mysteriöse Flecken dazu. Wenn sie entstanden, was mitten am Tag oder auch über Nacht geschehen konnte, erinnerten sie zuerst an Nachbilder eines Kamerablitzes, dann "kühlten sie ab", so zumindest beschrieb ich für mich den Prozess, und wurden zu einer blinden oder beinahe blinden Stelle im Gesichtskreis. Was sie waren, weiß ich bis heute nicht. Ich hatte sie bis 2018. Mit der allgemeinen Verbesserung meiner Gesundheit in diesem Jahr verschwanden auch die Flecken und kamen nicht mehr wieder.
Im Dezember 2014 fuhr ich für eine Woche in den hohen Norden Europas, mein erstes Mal oberhalb des Polarkreises, und stand eines Nachts auf einem gefrorenen See auf der Insel Kvaløya, wo ich mit einem „Aurora Guide“ acht Stunden lang unterwegs gewesen war, um Nordlichter zu finden. Wir sahen auch tatsächlich welche, ganz ungeheure, schwer in Worten festzuhaltende Triumphgebilde im Nachthimmel, die hohe Geheimsprache der Sonne, von der Erdatmosphäre übersetzt in unseren primitiven Erdendialekt. Ich stand paralysiert auf dem meterdicken Eis, empfand selbst mein immer heftiger werdendes Frieren in den Zehen als Teil einer stillen Andacht und-entdeckte einen unerwarteten Effekt. Wenn sich eines der leuchtenden Aurora-Glieder schneller bewegte, streifte es einige der blinden Stellen in meinem Gesichtsfeld und schien, als ginge es durch einen prismatischen Punkt, an dieser kleinen Stelle zu implodieren oder „mikroskopisch über sich selbst zu stolpern“. Ich habe Mühe, den Effekt sprachlich einzufangen. Durch langsames Hin-und-her-Bewegen meiner Augen konnte ich ihn an den hellsten Stellen der Aurora hervorrufen, obwohl man schnell sein musste, denn zum Zeitpunkt dieses sonderbaren Experiments unter dem Polarnachthimmel befand sich die Aurora-Aktivität gerade auf dem Höhepunkt, und die Bewegungen der leuchtenden Glieder waren schnell, schwappend, wie von starksehnigem Muskelspiel. Die unheimliche Netzhauterkrankung, an der ich litt und wegen der ich schon mehrere Augenärzte und Neurologen ohne Ergebnis konsultiert hatte, erlaubte mir hier plötzlich ein privates Minispektakel, das vielleicht niemand sonst je so gesehen hatte. Die Aurora haben viele gesehen, aber die Aurora mit solchen kleinen Stolperstellen? Ich glaube nicht. Wahrscheinlich war ich ganz allein mit dieser Erfahrung. Fühlte ich in ihr so etwas wie Trost? Ja, tatsächlich. Ungeheuren, geradezu dröhnenden Trost. Aber er war, da er buchstäblich direkt aus dem Weltall kam, eben viel zu stark, zu derb, zu unmenschlich, als dass ich ihn verwerten konnte.
In den Jahren danach, bevor das seltsame Symptom wieder verschwand, bereitete ich mir noch oft ähnliche Effekte, meist mit eng schraffierten Papierblättern, die von den blinden Stellen elegant verzerrt und verwirbelt wurden. Einmal, bei einem der ersten Rendezvous mit meiner späteren Frau, als wir an einer Nachtführung durch den Tiergarten Schönbrunn teilnahmen, bekamen wir Nachtsichtgeräte, die alles, was man anblickte, grünlich einfärbten. Dieser Grünton war zufälligerweise genau so beschaffen, dass er die problematischen Stellen in meinem Gesichtsfeld unerhört plastisch, fast wie erhabene Lettern hervortreten ließ. Mein Gehirn war tagsüber gewohnt, sie einfach wegzuzaubern, zu übermalen, aber hier, unter diesen künstlichen Sehbedingungen, konnte es das nicht mehr. Also sah ich auf einmal diese Wirbel und Krater, dazu kleine, irgendwie schmerzhaft gekrümmt aussehende Gebilde, die ich gar nie bemerkt hatte, vielleicht die Vorformen noch kommender Sehfeldausfälle. Wie bei jedem Blick in die Hölle lag darin eine gewisse Faszination, und ich achtete fast überhaupt nicht mehr auf die nachtaktiv herumstreifenden oder schlafend in ihren Gehegen hängenden Tiere, an denen wir auf der Führung vorbeikamen.
Ein paar Jahre später, von den Augenproblemen befreit und darüber hinaus in Begleitung meiner im Kinderwagen liegenden Tochter, lief ich eines Nachmittags durch die Ausstellung einiger weniger bekannter Werke von Edvard Munch in der Albertina. Meine kleine Tochter schlief, als stilles, langsam von mir durchs Universum geschobenes Zentrum. In einem der Räume fiel mir ein Gemälde auf, das „Sehstörung, 1930“ betitelt war. Auf dem Bild hatte Munch eine nach einem Netzhautriss erfolgte Einblutung in seinen Augapfel festgehalten. Später wurde, wie ich dem Begleittext entnahm, aus dieser Einblutung ein permanentes Gebilde innerhalb seines Gesichtsfeldes, das er seinen "dunklen Vogel" nannte. Er hielt diese vogelförmige Vernarbung immer wieder in Zeichnungen fest. Einem Essay von Sylvia Meilin Weber entnehme ich folgende Beschreibung des Phänomens aus Munchs Schriften: „Ein großer dunkler Vogel bewegte sich langsam vor mir--ein Vogel mit dunkelbraunen Federn--von dem eine leuchtend blaue Strahlung ausging, die ins Grün umschlug, um sich schließlich in einen herrlich gelben Ring zu verwandeln--der seine Position veränderte[]und alles, was er mit seinen Farben streifte, begann sich zu bewegen--auf der Chaiselongue krochen dicke Schlangen in den herrlichsten Farben umher und rollten sich zusammen.“ Und: „Die dunklen Punkte, die wie kleine Krähenschwärme häufig ganz oben auftauchen[]könnten Blutreste sein, die sich am Rand des kreisförmigen verletzten Teils angesammelt haben[ ]"
Diese Lebendigpreisung eines rein entoptischen Phänomens gefiel mir. Eine Netzhautblutung ist ja etwas, das niemand anders auf der Erde jemals so sehen kann wie der Patient. Eine vollkommen innere Angelegenheit also, die, ähnlich den anmutigen Stolpereffekten meiner Aurora borealis, nur eine Sache beweist: „Edvard Munch, du bist allein.“ Aber eben gerade deshalb sprang es ihn wohl als Sujet so an. In einer relativ knappen Periode fertigte er wie in einer Art Besessenheit zahlreiche Zeichnungen seines dunklen Vogels an. So ein Zugang ist, scheint mir, die eigentliche und wahrscheinlich auch am wenigsten leicht tilgbare Daseinsberechtigung von Kunst allgemein. Womit man ganz allein ist, davon muss man erzählen. Ich kann zum Beispiel manche Farben nicht so gut erkennen wie meine Frau. Sie entdeckt immer die zartesten Nebensonnen und Vorformen von Regenbögen am Himmel, während ich erst bei stärkerem Kontrast etwas erkennen kann. Also muss sie mir erst mal beschreiben, was sie sieht, etwa die (nach ein paar Minuten vielleicht auch für mich sichtbare) Krümmung dieses einen ganz schwachen Nebenbogens über den Bäumen da drüben. Wo sie bereits das Wunder sieht, sehe ich noch ganz normalen Himmel. Wenn ich es gar nicht erkennen kann, macht sie ein Foto mit dem iPhone und erhöht auf dem Bild die Farbsättigung auf 100 Prozent. Aber genau diese Zeitspanne zwischen dem Augenblick, da sie das Farbenspiel am Himmel entdeckt, und dem, wo ich es endlich auch sehen kann, ist in gewisser Weise heilig. Sie wird mit Beschreibungen gefüllt. Wäre unser Inneres anders synchronisiert, so wie das Innere aller Neuralink-Menschen in der Zukunft, bräuchten wir keine beschreibende Sprache, keine Poesie und auch keine Partnerschaft. Wir wären, mit anderen Worten, alle ganz allein, fürchterlich und rettungslos allein. Hätten alle Leute immerzu BANKS im Blickfeld, wäre es überflüssig, den alten Erasmus Darwin auf Google Books aus seinem ewigen Schlaf zu wecken. Mögen also unsere Augen und die von ihnen erzeugten Bilder für immer allein bleiben, unteilbar und möglichst schwer zu beschreiben. Je mehr wir uns anstrengen müssen, desto besser. Denn blieben unsere Augen mit ihren inneren Effekten-und selbst mit manchen Gespenstererscheinungen-nicht so allein, müssten wir es an ihrer Stelle werden.
Das ist, gerade in diesen „unsteten Zeiten“, der stärkste und wirksamste Trost, den ich kenne.
In seinen Romanen ("Indigo", "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre", u. a.) und Erzählungen beschäftigt sich der Grazer Autor, Dramatiker und Übersetzer, der im Jahr 2021 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, immer wieder mit obskuren Themen und Figuren aus der Wissenschafts-und Technikgeschichte. Sein Buch "Die Bienen und das Unsichtbare" etwa verbindet eine linguistische Betrachtung historischer Plansprachen mit autobiografischen Elementen; Setz' jüngster Roman, "Monde vor der Landung" (Österreichischer Buchpreis 2023), fiktionalisiert die Lebensgeschichte des deutschen Hohlwelt-Theoretikers Peter Bender. Dieser Text ist ein Originalbeitrag für profil.