Wenn Kulturschaffende ihre Identität verwischen

Sie verweigern sich der Öffentlichkeit, schweigen zu ihren Arbeiten und mystifizieren sich selbst: von Banksy bis Cro, von Pynchon bis Ferrante. [E-Paper]

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Ein Mann ohne Gesicht nimmt vor der Kamera Platz, in einem schummrigen Raum, an der Wand hinter ihm bunte Graffitis, Spraydosen im Regal. Zu seiner Rechten: eine Affenmaske hinter Glas. Die Kapuze seines Sweaters hat der Mann, der sich hier Banksy nennt, so weit über den Kopf gezogen, dass sein Gesicht im Schatten bleibt. Der Verzerrungseffekt in seiner Stimme kann die Cockney-Färbung in dem Englisch, das er spricht, nicht verhehlen. „Möglicherweise ist Kunst am Ende ja auch nur eine Art Witz“, mutmaßt der Dunkelmann ironisch.

Dies ist eine Szene aus dem – vom berühmtesten street artist der Welt persönlich inszenierten – Semi- Dokumentarfilm „Exit Through the Gift Shop“ (2010). Man weiß natürlich nicht, ob die Phantomgestalt mit Hoodie tatsächlich Banksy ist. Der Gedanke scheint angesichts seiner Geschichte eher unwahrscheinlich: Ein seit 30 Jahren aktiver, hochprofessioneller Trickser wie Banksy wird sich vermutlich nicht ausgerechnet dann, wenn er gerade alle Zügel in der Hand hat, in einen derart klischeehaften Graffiti-Keller setzen. Abgesehen davon, dass man in Bristol, wo der Künstler herkommen soll, kein Cockney spricht.

Die Anonymität des Kunstbetriebs-Dekonstrukteurs Banksy ist inzwischen zu einer Weltmarke geworden, die spektakuläre Selbstzerstörung eines eben verkauften, millionenschweren Werks während einer Sotheby’s-Auktion 2018 besiegelte die Ausnahmestellung des Briten. Die halbe Welt spekuliert über Banksys wahre Identität, während dieser unbehindert seine smarten Kunststreiche konzipiert und ausführt. Seine Anonymität hatte ursprünglich handfeste Gründe: Graffiti-Künstler arbeiten traditionell unter Pseudonym, schon weil ihre Interventionen im öffentlichen Raum kriminalisiert werden. Die Signaturkürzel der Sprayer erfüllen einen doppelten Zweck: Sie übernehmen künstlerische Verantwortung, entziehen sich aber dem juristischen Zugriff.

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Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.