Kino

Berlinale 2023: Das post-pandemische Comeback ist gelungen

Die 73. Filmfestspiele boten ein insgesamt ansehnliches, vom Publikum gestürmtes, emotional komplexes Programm.

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Die Sehnsucht der Berlinale-Leitung nach Filmstars ist unstillbar. Festivalchef Carlo Chatrian weiß, dass er auf prominente Unterstützung angewiesen ist. Denn es reicht nicht, stilistisch und thematisch relevante Arbeiten zu zeigen; Großveranstaltungen wie die Berlinale müssen der oft ein wenig unergründlichen Filmkunst (sowie den nach Glamour lechzenden Fördergebern und Luxussponsoren) auch den nötigen Resonanzraum bieten. Der Besuch aus Hollywood bürgt allerdings bisweilen nicht für allerhöchste Qualität. Der Schauspieler Sean Penn etwa brachte seinen desorganisierten Dokumentarfilm „Superpower“, eine Liebeserklärung an den ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj, nach Berlin mit – einen Film, der leider nur am Rande vom Krieg in der Ukraine handelt, sondern in erster Linie von Sean Penn selbst, von seinen Frontbesuchen, seinem Alkoholkonsum, seiner Reiseorganisation und seiner Dankbarkeit für den Heldenmut Selenskyjs.

Sean Penn

Um die unvergleichliche Cate Blanchett über den Roten Teppich spazieren zu lassen, lud man sogar „Tár“ ein, einen Film, der bereits vor einem halben Jahr in Venedig uraufgeführt wurde, fabrizierte daraus kurzerhand ein „Berlinale Special“. Und Regie-Superstar Steven Spielberg köderte man mit dem Goldenen Ehrenbären des Festivals, um ihn dazu zu bringen, seinen autobiografischen Film „The Fabelmans“ persönlich zu begleiten; Spielbergs fast schon selbstironische Hymne an seine Kindheit und ersten Regieversuche in den 1950er- und 1960er-Jahren erwies sich als überraschend bodenständig und unmittelbar einnehmend.

Die koreanisch-kanadische Dramatikerin Celine Song bediente sich ebenfalls an der eigenen Biografie: Ihre erste Filmarbeit „Past Lives“, eine schwelgerisch orchestrierte Romanze unter jungen koreanischen Immigranten in Nordamerika, gehörte zu den Favoriten der internationalen Kritik. Im gewohnt durchwachsenen Wettbewerb ragten wenige Filme heraus: Giacomo Abbruzzeses Fremdenlegionsstudie „Disco Boy“ besitzt gewagte Bilder und ungeahnte Momente, aber wenig inhaltliche Substanz; in ihrem melancholischen Drama „Tótem“ skizziert die Mexikanerin Lila Avilés mit sensitivem Blick das Binnenleben einer Großfamilie aus der Perspektive einer Siebenjährigen, deren Vater schwer erkrankt ist. Sehr konzentriert erschien auch Margarethe von Trottas stilles Literaturliebesmelodram „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“. Vicky Krieps verwandelt sich die unglückliche Titelheldin virtuos an, die sich in eine komplizierte Beziehung mit dem Autor Max Frisch (Ronald Zehrfeld) stürzt.  

Nebenbei bestätigten die Filmfestspiele den guten Ruf von Berlins Besten: Angela Schanelec spielt in „Music“, gedreht weitgehend unter freiem Himmel in Griechenland, auf den Ödipus-Mythos an, den sie als elementares, vom Zwang zur Erzählung entkoppeltes Rätselspiel variiert. Schanelec bringt es mit scheinbar einfachsten Mitteln zuwege, die Welt so darzustellen, als sähe und höre man sie zum allerersten Mal: wie Sonnenstrahlen über das Gesicht eines Kindes huschen, wie eine junge Frau über die Felslandschaft einer Bucht ins kalte Meer steigt, wie eine sakrale Komposition des Venezianers Antonio Vivaldi, 300 Jahre alte Musik, die Bilder neu zu modulieren versteht. Und auch der Filmemacher Christian Petzold versucht in „Roter Himmel“ für ihn Ungewohntes: Ehe seine von Waldbränden und Begehrensasymmetrien heimgesuchte Ferienerzählung in Richtung Melodram abbiegt, lässt er – unter tatkräftiger Mithilfe des exzellenten Wiener Hauptdarstellers Thomas Schubert – seinen üblicherweise durchgeistigt-ätherischen Stil zugunsten einer subtilen Tragikomödie hinter sich. Die um einen scheiternden und dementsprechend schlecht gelaunten jungen Schriftsteller kreisende Erzählung erweist sich als erstaunlich leichtgängig, dennoch emotional belastbar: Erst in der größtmöglichen Klarheit, in Abwesenheit jeder Anmaßung, kommt das Kino zu sich.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.