Berlinale: Geyrhalters Kinoessay "Homo sapiens"
Fast höhnisch klingt der Titel dieses Films angesichts der hier wirkenden Bildgewalt. Die Weisheit ist in "Homo sapiens“ ein Hirngespinst, der Mensch selbst nur noch eine ferne Erinnerung, eine historische Fußnote. Nikolaus Geyrhalters jüngste Kinoarbeit, die im Forum der Berlinale nun zur Uraufführung kam, bietet keine Worte, keine Körper, keine Gesichter, zeigt nichts als menschenleere Schauplätze, eine Serie vergessener, verwunschener Orte, in denen die Natur inzwischen freies Spiel hat, sich zurückerobert, was einmal ihr gehörte. Das Innere des verfallenden Busludscha-Denkmals, eines sozialistischen Stein-Ufos aus den frühen 1980er-Jahren irgendwo im bulgarischen Gebirge, ist der monumentale erste Raum, die erste Ruine dieser Erzählung. Es tropft durch die vielfach zerrissene Decke, Schnee und Eis haben sich Wege ins Innere gebahnt. Ein Mosaik feiert die Menschen, die so viel Pracht herstellen konnten: eine heroische, farbenfrohe, ausgestorbene Spezies.
Nikolaus Geyrhalter gehört zu Österreichs großen Dokumentarfilmstilisten; seit gut zwei Jahrzehnten produziert und fotografiert er seine Filme selbst, dabei erweiterte er seinen Aktionsradius thematisch, formal und geografisch konsequent. "Unser täglich Brot“ lotete 2005 die Abgründe der Lebensmittelindustrie aus, "Abendland“ (2011) jene der Festung Europa. In "Über die Jahre“ (2015) beobachtete er die Schicksale der nach Schließung einer alten Textilfabrik frei werdenden Arbeitskräfte über eine ganze Dekade.
Geyrhalters Kamera blickt aus dem Hier und Jetzt kühn in eine posthumane Zukunft: der Angriff der Gegenwart auf das Ende der Zeit.
Vier Jahre hat Geyrhalter an "Homo sapiens“ gearbeitet, in Europa, Japan, Argentinien, den USA gedreht. Der Film spielt mit der Idee der (verfrühten) Aufzeichnung dessen, wie die Welt aussehen könnte, wenn der Mensch aus ihr verschwunden sein wird, zeichnet auf, was wir an Architektur, Mobiliar und Müll, an Zivilisationsresten hinterlassen werden. Geyrhalters Kamera blickt aus dem Hier und Jetzt kühn in eine posthumane Zukunft: der Angriff der Gegenwart auf das Ende der Zeit.
Es gibt viel zu sehen, zu hören, zu verarbeiten in "Homo sapiens“. Geisterstädte und Supermärkte mit herumliegenden Waren, die niemand mehr braucht; Katakomben und Tempel, eine Kirche in Trümmern, verblichene Shoppingmalls. Der Wind fährt ins hohe Gras und den verstreuten Abfall, anderswo dringt Regen und Schnee in die verödeten Räume. So ist in diesen Bildern, obwohl die Kamera grundsätzlich immobil bleibt, unaufhörlich Bewegung: Blätter fallen aus den Bäumen, Deckenlampen schaukeln sanft, Rauch steigt in der Hitze der Sonneneinstrahlung auf. In einem ehemaligen Krankenhaus tanzt ein Paar sonnenbestrahlter Fensterläden. Ein Frosch hüpft durch die Trümmer eines Hauses, ein paar Vögel jagen einander durch die ferne Deckenöffnung eines Reaktors.
Es hallt, knarrt, plätschert, dröhnt in Dolby Atmos, die Insekten summen und die Tauben gurren.
"Homo sapiens“ zeigt vor allem Arbeits- und Zerstreuungsräume - Theaterauditorien, Bürokorridore, ein Kino: Der Projektor zielt noch immer auf die blinde Leinwand. Im Wald steht rostiges Kriegsgerät, die Straßen führen ins Nichts. Er habe "einen kritischen Blick zurück auf die Menschheit“ werfen wollen, erklärt der Regisseur, und die Bäume, die Gebäude, den Wind als seine Schauspieler betrachtet. Tatsächlich haben er und sein Team nicht klassisch dokumentarisch gearbeitet, sondern vieles inszeniert, haben Wind erzeugt und Licht gesetzt, irrelevante Details digital ausgefiltert - und vor allem im Sound-Design (Peter Kutin) gespenstische Stimmungen komponiert. Es hallt, knarrt, plätschert, dröhnt in Dolby Atmos, die Insekten summen und die Tauben gurren.
Geyrhalters Arbeiten "widmen sich Epiphänomenen“, schreibt Volker Pantenburg in "Räume in der Zeit“, einem neuen, von Alejandro Bachmann herausgegebenen Buch über den Filmemacher: "Es sind Variationen über verschiedene Formen des Danach.“ Geyrhalters Bilder sind aufgeladen mit Geschichte(n), sie erstatten, indem sie Gegenwärtiges registrieren, von Vergangenem und Zukünftigem zugleich Bericht, bergen Erzählungen, die nie ganz zu fassen sind. Lange hatte dieser Film den Arbeitstitel "Irgendwann“ getragen, in produktivem Widerspruch zur Präzision seiner Form. Der starre Blick der Kamera ist nur scheinbar gleichgültig: Es steckt viel Traurigkeit, Pathos und Schönheit in "Homo sapiens“.
Alejandro Bachmann: Räume in der Zeit. Der Filmemacher Nikolaus Geyrhalter Sonderzahl, 220 S., EUR 25,-