Berlinale-Preise: Triumph für das Spielfeld Kino
Allzu selten geschieht es, dass sich die – bewusst heterogen zusammengesetzte – Jury eines großen Filmfestivals nicht auf faule Kompromisse oder brave Mittelwege einigt, sondern tatsächlich auf die intelligentesten, radikalsten, eben besten Arbeiten eines Jahrgangs. Am Ende der 69. Berlinale, deren schmaler Wettbewerb (lediglich 16 Filme konkurrierten um die Silbernen und Goldenen Bären) randvoll mit gut gemeinten, konventionell inszenierten Schaustücken war, triumphierten unerwartet, unter dem Zutun von Jury-Präsidentin Juliette Binoche, die beiden unbequemsten und schon deshalb lohnendsten Beiträge: Nadav Lapids „Synonymes“, der wohl originellste und freieste Film dieses Wettbewerbs, gewann den Hauptpreis des Festivals, den Bären in Gold, für die Erzählung einer vorsätzlichen Identitätsauslöschung: Ein junger Mann aus Israel, der mittellos Paris erreicht, verleiht dem Hass auf das Land, aus dem er kommt, durch seine Weigerung, Hebräisch zu sprechen, Ausdruck. „Synonymes“ ist ein wilder, sanft surrealistischer Trip durch weltanschauliche Extremzonen und ungerechte Klassenverhältnisse, eine Attacke auf Antisemitismus ebenso wie auf die israelische Außenpolitik.
Wut und Nähe
In seiner Heimat Israel, sagte Lapid, 43, in seiner Dankesrede am Samstagabend im Berlinale-Palast, werde man seinen (autobiografisch gefärbten) Film vielleicht als Skandal empfinden, aber er hoffe, dass sich auch dort irgendwann das Bewusstsein durchsetze, dass all die Wut und der Zorn seines Films nur die andere Seite von Bindung und Nähe seien.
Die deutsche Filmstilistin Angela Schanelec, 57, wurde für ihre schmerzhafte, in alle Richtungen offene Erzählung „Ich war zuhause, aber ...“ mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie geehrt: Das war das zweite Wunder dieses Abends, denn Schanelecs scharfkantiger Bericht einer psychischen Krise – eine Frau (konzentriert verkörpert von Maren Eggert) gerät nach dem Tod ihres Mannes und dem kurzfristigen Verschwinden ihres Sohnes in emotionale Ausnahmezustände – behagte nicht allen Festivalteilnehmern. Die Inszenierung ist betont stilisiert, in fragmentarische Alltagsskizzen und vieldeutige Szenen aufgelöst; man spürt und erkennt Schanelecs Cinephilie, ihren Rückgriff auf den präzisen Realismus Bressons, die stillen Familiendramen Ozus und die literarisch-theatralischen Methoden Danièle Huillets und Jean-Marie Straubs. Als Projekt so persönlich angelegt wie Lapids Film, verdichtet sich „Ich war zuhause, aber ...“ zu einem ästhetisch anmutigen philosophischen Rätsel.
Dringlichkeit und Dynamik
Ein zweiter, ungleich zugänglicherer deutscher Film gehörte zu den Siegern dieses Jahres: „Systemsprenger“, das mitreißende Regiedebüt der jungen Filmemacherin Nora Fingscheidt, wurde ebenfalls mit einem Silbernen Bären belohnt. Die Story einer Neunjährigen, die infolge eines frühkindlichen Traumas zum schwer erziehbaren Aggressionsbündel wird, an dem sich alle zuständigen Institutionen und Sozialarbeitskräfte die Zähne ausbeißen, hat Dringlichkeit und Dynamik – und ein brillantes Kind in der Titelrolle: Helena Zengel macht die Gefahr und die Unbändigkeit ihrer Figur kompromisslos deutlich. Eher politisch motiviert war der Große Preis der Jury, der an François Ozons „Grâce à Dieu“ ging, eine Aufarbeitung des Kindesmissbrauchs in der Katholischen Kirche.
Das beste Drehbuch meinte die Jury in dem nach Roberto Savianos Recherchen hergestellten Teenager-Mafiafilm „La paranza die bambini“ zu erkennen, als beste Schauspieler Yong Mei und Wang Jingchun, die beiden tragenden Akteure des chinesischen Epos „So Long, My Son“. Der Silberne Bär für eine „herausragende künstlerische Leistung“ schließlich ging an den dänischen Kameramann Rasmus Videbæk, der den Film „Pferde stehlen” fotografierte.