Berlinale 2018: Gestrandete, Gejagte und Geflüchtete
Der in Oslo arbeitende Regisseur Erik Poppe verdient die Ehre nicht. Er benutzt in „Utøya, 22. Juli” jenes Massaker, das der rechtsextreme Anders Breivik 2011 in einem Insel-Ferienlager angerichtet hat, für eine sinnentleerte, anderthalbstündige Feier der Todesangst. Mit Handkamera rückt er den gejagten, sich im Wald und an der Küste versteckenden Jugendlichen nahe, während unaufhörlich Schüsse knallen; Poppe zeigt, technisch durchaus versiert, verblutende Teenager und die sich ausbreitende Panik, verzichtet aber zugunsten seines obszönen Real-Thrillers auf jeden Erkenntniswert.
Die Berlinale hat Intelligenteres zu bieten: Der russische Filmemacher Alexey German jr. etwa hat mit dem Schriftstellerporträt „Dovlatov“ in blassen Farben und aufwändigen Plansequenzen das repressive Klima in der Sowjetunion anno 1971 rekonstruiert, dabei ein leider auch aktuelles, höchst pessimistisches Sittenbild seiner Heimat entworfen.
Und der Berliner Kino-Auteur Christian Petzold („Die innere Sicherheit“, „Phönix“) bringt es in dem Exildrama „Transit“ ebenfalls zuwege, über einen historischen Stoff in die politische Gegenwart vorzustoßen: In seiner sehr freien Adaption des gleichnamigen Romans von Anna Seghers erzählt er auf ganz eigene Weise von der humanitären Katastrophe, die aus den globalen Migrationsbewegungen erwachsen ist. Im heutigen Marseille warten die vor den heranrückenden Faschisten Fliehenden auf ihre Ausreisepapiere: Der junge Schauspieler Franz Rogowski gibt in „Transit“, dieser eigenwilligen Mischung aus europäischem Autorenfilm und amerikanischem Kinoklassizismus, den ratlosen Helden, der eine junge Frau (Paula Beer) kennenlernt, die vergeblich auf ihren Mann wartet.
Das in Österreich koproduzierte, von Wolfgang Fischer kompetent inszenierte Hochseedrama „Styx“ verfährt, abseits des Wettbewerbs, mit der Flüchtlingskrise übrigens formal konträr: Fischer stellt die Odyssee einer einsamen Seglerin dar, die nach einem Unwetter den Weg eines sinkenden, mit Menschen überladenen Bootes kreuzt. Susanne Wolff spielt diese Frau, die – ohne jede Chance, die unzähligen Ertrinkenden auf ihrer kleinen Yacht unterzubringen – einen afrikanischen Buben birgt, aber in einen Gewissenskonflikt gerät, als sie feststellen muss, dass die von ihr alarmierte Küstenwache bewusst tatenlos bleibt. Zudem bringen sie die verzweifelten Versuche ihres Schützlings, seine Mitreisenden vor dem Tod zu bewahren, in ein schweres Dilemma zwischen Vernunft und Nächstenliebe. „Styx“ vertraut dem physischen Realismus der Situation, die er herstellt – das packende, sehr detaillierte Spiel der variablen Machtverhältnisse an Bord sind die Stärke und die Schwäche dieses Films zugleich: Fischer reicht über die konkrete Situation, die er sehr präzise beschreibt, nicht hinaus.
Der schönste Film der Berlinale ging freilich gleich zur Eröffnung über die Bühne: Es steht dennoch zu befürchten, dass Wes Andersons japanisch stilisierter Stop-Motion-Trickfilm „Isle of Dogs“ – die dystopische Erzählung einer Welt, in der Hunde auf eine toxisch verseuchte Insel, in einen harten Überlebenskampf abgeschoben werden – bei der Jury kaum Chancen haben wird, so dicht erscheinen Story und Pointenhagel, so wild seine szenischen, kindlich-anarchischen Erfindungen. Ein Schauprozess gegen die Erzählkonventionen, eine Rehabilitierung des filmischen Irrwitzes: „Isle of Dogs“ führt vor, wie weit das Kino gehen kann, wozu es fähig ist, wenn es von wahren Virtuosen bespielt wird.