Szene aus "Fuocoammare"

Berlinale-Resümee: Zeit der Ernüchterung

Das äußerst heterogene Programm der 66. Berlinale konnte nicht überzeugen. Österreichische Filme sorgten dennoch für Aufsehen - und die globalen Flüchtlingskrisen sind im Kino angekommen.

Drucken

Schriftgröße

An einer Hand ließen sich die sehenswerten Berlinale-Arbeiten dieses Jahres abzählen: das betont unspektakuläre, um Isabelle Huppert kreisende Philosphie- und Alltagsdrama "L’avenir“ der französischen Filmemacherin Mia Hansen-Løve etwa und Lav Diaz’ achtstündiges philippinisches Historien-Wiegenlied "A Lullaby to the Sorrowful Mystery“, das die Endphase des Festivals noch einmal dynamisierte. Mit ein paar Abstrichen konnten zudem der Exiliraner Rafi Pitts (mit "Soy Nero“, einem scharfen Kommentar zur militärischen Ausbeutung mexikanischer Immigranten in den USA) und Altmeister André Téchiné (mit dem Teenager-Liebesmelodram "Quand on a 17 ans“) punkten. Aber die problematische Strategie des Festspielchefs Dieter Kosslick, extrem konventionelle (etwa das Thomas-Wolfe-Drama "Genius“) oder regelrecht unwürdige Filme (wie die Bauern- und Alkoholiker-Comedy "Saint Amour“) nur wegen ihrer Starbesetzung ins Hauptprogramm zu hieven, sorgte heuer erneut für eine ernüchternde Bilanz.

Dokumentarfilme haben in den Wettbewerben der großen Festivals selten ihren festen Platz. Gianfranco Rosis neue Arbeit konnte trotzdem ihren Weg ins Hauptprogramm der Filmfestspiele finden. Denn "Fuocoammare“ ist ein hochaktueller Debattenbeitrag über den Zustrom Geflüchteter auf der kleinen italienischen Insel Lampedusa. Das Thema setzte, zunächst weit jenseits von Qualitätskriterien, ein sich seit je als politisch begreifendes Festival unter Zugzwang - gesellschaftliche Aktualität schlägt poetisch-weltferne Kinokunst. Dabei ist "Fuocoammare“ alles andere als kunstlos. Rosi blickt auf den täglichen Lebensvollzug schrulliger Inselbewohner, und sie alle geben sich, als wären sie unbeobachtet, versunken in ihre Pflichten, Gespräche und Freizeitgestaltungen. Der zwölfjährige Samuele ist die Leitfigur des Films: ein charmanter kleiner Streuner, der sich in den Wäldern herumtreibt, von Waffen träumt, aber an Beklemmungen leidet. Die ankommenden Flüchtlinge - und dies ist das größte Manko des Films - werden nicht als Individuen dargestellt, bloß als Ansammlung von Fremden, die man durchsucht, registriert und weiterschickt. Empathie weist Rosis Film dennoch und unmissverständlich für sie alle auf, zeigt den Schmerz in den Gesichtern der Ankommenden, rückt die versehrten, auch die toten Körper ins Bild.

Österreichische Beiträge jenseits der Konvention

Österreichs Gegenwartskino ist da anders: Die Verwerfungen der Liebe geben ihm ein Leitmotiv. Drei filmische Arbeiten aus Wien, die bei der 66. Berlinale uraufgeführt wurden, zeugen davon. Sie alle setzen sich über Konventions- und Darstellungsgrenzen hinweg, um an die Essenz dessen zu gelangen, was das heißen kann: zu lieben, zu begehren, einander aufs Innigste zu vertrauen. Und wie schnell die Zuneigung umschlagen, kippen kann, wie nah in allen Fällen der blanke Hass zu liegen scheint. Um das Leben eines schwulen Paars, zweier bourgeoiser Wiener Bohemiens, geht es in dem eigenwilligen Spielfilm "Kater“: Der zwischen Literatur, Theater und Kino vielfältig begabte Händl Klaus hat ihn geschrieben und inszeniert - und mit Philipp Hochmair und Lukas Turtur zwei sich buchstäblich mit Haut und Haar ihren Rollen überantwortende Protagonisten gefunden. Den psychologischen Hintergrund einer unerklärlichen Gewalttat, die das beschauliche Leben des Paares jäh zerreißt, leuchtet Händl kühn aus. Und er gibt auch den physischen Aspekten dieser Beziehung breiten Raum, scheut vor explizit sexuellen Bildern nicht zurück. Mit der Vielzahl an Fragen, die er aufwirft, überfordert Händl sich und seinen Film jedoch, der als ästhetisch-moralisches Experiment seine Meriten, aber nicht ganz die nötige narrative Konsequenz besitzt.

In die schwule Szene Wiens, ein paar soziale Stufen tiefer, dringt auch Regisseur Patric Chiha ein: Seine Low-Budget-Studie "Brüder der Nacht“, eine Erkundung der Lebensweisen bulgarischer Roma, die als Stricher in Wien leben, dockt sichtlich an die Galionsfiguren der queeren Filmgeschichte, an Fassbinder, Genet, auch Kenneth Anger und Peter Kern an. Chiha porträtiert die jungen Männer, die sich ihm anvertrauen, ohne Vorurteile, feiert ihre Träume und ihre Lebenslust in semidokumentarischen Spielszenen, mit melodramatischer Musik und grellen Farben.

Die souveränste, auch stillste Form, von der Liebe und dem Kino zu erzählen, fand aber Ruth Beckermann, deren neuer Film ebenfalls die Grenzen zwischen Sein und Schein, Fiktion und Dokument auflöst. "Die Geträumten“ widmet sich dem Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Der strukturelle Rahmen ist der Clou des Films: Die Dokumente einer unbedingten Liebe und ihrer Enttäuschung, in einem Studio des ORF-Funkhauses gelesen und diskutiert von der Musikerin Anja Plaschg und dem Schauspieler Laurence Rupp, werden zur Basis einer Auseinandersetzung mit komplexen Fragen: Wo endet die darstellerische Distanz, wo beginnen Schauspiel, Identifikation? Wie lassen sich Zeit- und Textschichten im Kino ineinander blenden? "Die Geträumten“ ist ein überaus zarter Film, der nicht bloß von zwei historischen Gestalten, sondern von vier hochempfindlichen Künstlern - besser noch: vom Wesen der Emotion selbst - handelt.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.