Berlinale, Tag drei: Lust an der Provokation
Wirklich Überraschendes ist im Gegenwartskino immer schwerer zu entdecken. Die laufende Online-Berlinale ist da keine Ausnahme. Viel Konventionelles flimmert einem da entgegen, das von einem starken Vertrauen in klassische Erzählweisen und etablierte Darstellungsformate zeugt, als wäre die regeltreue Benützung bestimmter Genres allein schon ein mutiger Schritt.
Aber hin und wieder stößt man eben doch auf deviante Projekte, die Neues, Unerwartetes wagen: Der deutsche Regisseur Dominik Graf etwa spielt gern nach eigenen Regeln, das ist auch seinem – auf Erich Kästners 1931 erschienenem Berlin-Roman „Fabian“ basierenden –Dreistünder anzusehen, der zu jenen 15 Filmen gehört, die sich heuer um den Goldenen Bären bewerben; Graf hat fast schon zu viele Ideen, um das Nachtleben seines hedonistischen Titelhelden (gespielt von Tom Schilling) mit der Geschichte des sich konsolidierenden Faschismus möglichst material- und zeitenübergreifend zu verbinden; Grafs atemloser Formalismus, in dem historische Archivaufnahmen und Split-Screen-Bilder auf schnell geschnittene Szenen treffen, die mit stets bewegter, zitternder, zoomender Kamera gedreht wurden, ist nicht ohne Faszination, steht dem politischen Erzählen aber fast schon im Weg.
Den entgegengesetzten Weg geht die Portugiesin Susana Nobre in „Jack’s Ride“ („No taxi dó Jack“), ihrem auf analogem Filmmaterial gedrehten Beitrag zum Programm der Forum-Reihe: Sie porträtiert, im klassischen 4:3-Filmformat, einen vor seiner Pensionierung stehenden Arbeiter, indem sie der sympathischen Wirkung und Geschichte ihres Helden vertraut; seine Reise durch Portugal wird klug mit den Erinnerungen an die 1970er-Jahre in New York City, wo er sich als Einwanderer einst durchschlug, verflochten. Auch dies ein Film zwischen den Zeiten, der aber – bei allem formalen Nonkonformismus – Ruhe, Selbstsicherheit und Schönheit ausstrahlt.
Der rumänische Filmemacher Radu Jude weiß, wie Graf und Nobre, das Unabsehbare zu schätzen, aber er ist einer, der jederzeit dazu bereit ist, Geschmacksgrenzen und Erzählkonventionen zu übertreten, auf Eskalation umzuschalten. In seinem jüngsten Werk hantiert er nonchalant mit pornografischen und kriegerischen Bildern (und hochtheoretischen Texten), zeigt – in der Story einer Lehrerin, die per online geleaktem Amateur-Sextape zur Gejagten einer bigotten Gesellschaft wird – Triviales und Abscheuliches, all die Unter- und Übergriffe, die Menschen einander zumuten.
Judes Lust an der Provokation ist produktiv: Seine nihilistische, den Berlinale-Wettbewerb bereichernde neue Tragikomödie, die er typisch zynisch „Bad Luck Banging or Loony Porn“ genannt hat, teilt etwas von Bedeutung mit; sie erhebt – politisch, sozial und ästhetisch – Einspruch gegen den Lauf der Welt, mit den Mitteln einer Satire, die so nah an der Wirklichkeit gebaut ist, dass sie als nur noch unwesentlich überhöht erscheinen kann. Der Film stellt sich dem alltäglichen Sexismus und der Misanthropie, dem Rassismus und dem digitalen Hass, geißelt eine verhärtete, brutalisierte Gesellschaft, die sich hinter den Masken und den neuen Distanzgeboten unserer Zeit weiter radikalisiert: Radu Judes schockierend offener Gesellschaftsbefund, der allfälliges Lachen hier schnell ersticken kann, ist alles andere als angenehm – aber es ist auch nicht dazu angetreten, uns ruhigzustellen.