Berlinale, Tag fünf: Es dröhne das Obszöne
Minutenlang glaubte er an einen Scherz. Der rumänische Filmemacher Radu Jude, auch sonst ein großer Zweifler, konnte die Frohbotschaft nicht Ernst nehmen, die ihm der künstlerische Leiter der Berlinale, Carlo Chatrian, mit dem er am Freitagvormittag per Videokonferenz verbunden war, gerade übermittelt hatte. Ausgerechnet sein Wettbewerbsbeitrag sollte den Goldenen Bären der Filmfestspiele erhalten? Unmöglich. Chatrian erlaubte sich wohl eine böse Pointe. Oder? Nein, es stimmte schon.
Judes jüngste Kinoarbeit, „Bad Luck Banging or Loony Porn”, erhielt ihre Auszeichnung völlig zu Recht, als eine heimtückisch dröhnende Gegenwarts- und Gesellschaftssatire, die von einem Amateurporno im Netz ausgeht, in der Folge aber viel Obszöneres im Alltag einer Welt findet, die auf ihre vielfältigen Geistes-, Moral- und Viruskrisen nur noch mit Aggression oder stupidem Gelächter reagieren kann.
Ein zum Online-„Industry-Event“ geschrumpftes Festival vergibt seinen Hauptpreis an eine maliziöse Auseinandersetzung mit Internetpornografie und kommuniziert anschließend virtuell mit den Regiekräften: Hier passte, auf ungute Weise, alles zusammen.
Als eine Art Gegenmittel zu „Bad Luck Banging“ (oder eben einfach die andere Seite der Humanismus-Medaille) konnte man jenes monumentale Werk verstehen, dem die Jury einen Silbernen Bären anvertraut hat: Der Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“, eine dreieinhalbstündige Studie individueller Begabungen und Verfasstheiten, gedreht von der deutschen Regisseurin Maria Speth, strahlt Optimismus aus, ohne auch nur einen Funken an Schönfärberei zu benötigen; es ist eine gleichsam geerdete, den Menschen, von denen sie handelt, zugewandte Arbeit. Dieses so schlicht erscheinende Rezept ist im Gegenwartskino, als läge es nicht unglaublich nahe, rar geworden. Eine hochtalentierte Filmemacherin, ein großartiger Lehrer und seine heterogene, sich jederzeit Widerspruch zutrauende Klasse, mehr braucht man im Kino zum Glücklichsein nicht.
Als bester Regisseur ging der Ungar Dénes Nagy ins Ziel; sein präzise inszenierter Weltkriegsfilm „Natural Light“ weise in „beängstigenden und hypnotisierenden Bildern über seinen geschichtlichen Zusammenhang hinaus“, heißt es in der Jurybegründung.
Die größten schauspielerischen Leistungen meinte man in Maren Eggerts Performance als in einen Androiden verknallte Forscherin in Maria Schraders allzu harmloser KI-Comedy „Ich bin dein Mensch“ zu erkennen – sowie, als Nebenrollenpreis, in Lilla Kizlingers Leistung in Bence Fliegaufs nervösem Kammerspiel „Forest – I See You Everywhere“.
Für das beste Drehbuch wurde der koreanische Freigeist Hong Sang-soo ausgezeichnet, der Japaner Ryosuke Hamaguchi für seinen Film „Wheel of Fortune and Fantasy“ am Ende mit dem Großen Preis der Jury. Auch dies: eine ganz richtige Entscheidung. Und nächstes Jahr bitte wieder im Kino.