Berlinale-Tagebuch (III): Provokation und Alltag
Freitagabend im Cubix-Kino am Alexanderplatz, vorletzter Berlinale-Spieltag vor Vergabe der Preise. Geschätzte 300 Menschen im vollbesetzten Saal erfreuen sich an einem kleinen Dokumentarfilm aus Wien, der hier in der „Panorama“_Schiene läuft und in derart breitem Wienerisch gehalten ist, dass selbst Menschen, die diese Sprache einigermaßen zu beherrschen glauben, sich immer wieder an die englischen Untertitel halten müssen: „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ (Regie: Tizza Covi und Rainer Frimmel) zeichnet in minimalistischen, schwarzweißen Bildern eine Reihe von Gaststubenkonversationen mit altersmilde gewordenen Milieugrößen auf, die sich an das Wien der Nachkriegszeit, vor allem an die 1960er- und 1970er-Jahre erinnern, als sie sich – wenn sie nicht gerade jahrelange Haftstrafen verbüßten – ihre Zeit noch mit illegalen Kartenspielen, allfälligen Wirtshausraufereien und manchmal auch mit Schießereien vertrieben.
Der Heurigensänger Kurt Girk (1932–2019), den man den „Frank Sinatra von Ottakring“ nannte, ist das Zentrum des Films: Seine dünne Statur und vornehme Erscheinung bieten einen schönen Kontrast zum hemdsärmeligen zweiten Helden, Alois Schmutzer, dessen einstige körperliche Durchsetzungsfähigkeit in der Unterwelt Stoff von Legenden ist; er sei „stark wia a Viech“ gewesen, habe einen ganzen Trupp von Polizisten nur mit Faustkraft auf Distanz halten können. Beiden Herren ist nicht nur die Liebe zum Fabulieren gegeben, sondern auch ein unerschütterlich positives Weltbild. Zur Gruppe der typischen Wiener Grantler gehören sie beide nicht. Auch dies macht ihre lakonischen Schilderungen eines fallweise blutig eskalierenden kriminellen Lebens so hörens- und sehenswert.
„Diese Wiener“, hatte eine Kritikerin im Berliner „Tagesspiegel“ vor ein paar Tagen noch sinniert, als sie Marvin Krens „obskure“, bei der Berlinale vorgestellte „Freud“-Serie rezensierte: „Diese Wiener. Seltsam sind sie und wollen noch seltsamer sein. Unentwegt arbeiten sie an der Mystifizierung einer Stadt, die nicht nur Postkartenansichten (...) kennt, sondern auch Abgründe.“ An Mystifizierung ist die junge Wiener Filmemacherin Lisa Weber nicht interessiert. Ihre dokumentarische Familienstudie „Jetzt oder morgen“, ebenfalls im „Panorama“ zu sehen, legt sie radikal unspektakulär an, mit exzellentem Blick für Zwischentöne und schwelende Konflikte. Ins Zwischenreich des Doku-Fiktionalen führte dagegen, im „Forum“-Programm, Constanze Ruhms „Gli appunti di Anna Azzori / Uno specchio che viaggia nel tempo“: Die typisch vertrackte Hommage an die junge Heldin eines italienischen Avantgarde-Dokuments – Alberto Grifis und Massimo Sarchiellis „Anna“ (1975) – hat mehrere narrative Schichten, die von der Analyse des Ausgangsmaterials bis zu Casting-Abläufen für ein fiktives „Anna“-Remake reichen. Ruhm hat eine starke (und bildschöne) essayistische Form gefunden, mit der sie nicht nur die Komplikationen der Existenz eines zufällig ins Kino geratenen Mädchens weiterdenkt, sondern auch Vorschläge für eine neue feministische Bewegtbildkunst liefert.
Zu Sandra Wollners in der Zweitwettbewerbsreihe „Encounters“ laufenden, viel positives Aufsehen erregenden Roboter-Fabel „The Trouble with Being Born“ (profil berichtete) findet sich im Berlinale-Katalogtext der Begriff des „Österreichisch-Provokativen“, als wäre die Kombination dieser beiden Wörter bereits felsenfest etabliert. In Berlin scheint man tatsächlich davon auszugehen, dass Österreichs Filmszene vor allem auf Konfrontation und Grenzüberschreitung zielt. Mit der Ausnahme von „Freud“ decken die hier genannten Filme diese Behauptung allerdings nicht.
Berline-Tagebuch:
Berlinale-Tagebuch 1: Neue Filme von Christian Petzold, Kelly Reichardt und Philippe Garrel.
Berlinale-Tagebuch 2: Tränen, Wahn und Wirklichkeit