Berlinale-Tagebuch (II): Tränen, Wahn und Wirklichkeit
Hillary Rodham Clinton, die im Zentrum einer neuen, gut vierstündigen Doku-Serie steht, teilt – wenig überraschend – gegen den Tölpel im Weißen Haus aus und lobt die deutsche Kanzlerin über den Klee. Der Schauspieler Lars Eidinger (Foto) vergießt öffentlich Tränen, weil er „Liebe in die Welt tragen“ will, aber viel zu viel sozialen Hass erntet. Und der Amerikaner Willem Dafoe treibt sich, mit einem gewaltigen Zuhälter-Schnauzer im Gesicht, grinsend durch die Gänge des Mandalas-Hotels, während sein Regisseur Abel Ferrara in einem der Zimmer gewohnt fahrig Interviews gibt, während er sich von einem spanischen Kamerateam für ein kommendes Ferrara-Porträt filmen lässt.
Alles kreatives Chaos, das dann aber doch, typisch bundesrepublikanisch, in sehr kontrollierten Bahnen abläuft. Man startet pünktlich, wickelt sauber ab, schleust durch, lässt ein, schließt ab. Die Berlinale 2020 läuft kurz nach der Halbzeit auf Hochtouren (und mit Einnahmenrekord), auch wenn die allerwichtigsten Branchenvertreter schon wieder das Weite gesucht haben. Das verschlankte Programm erzählt vielschichtig von der gegenwärtigen Welt, komisch zugespitzt oder auch sensitiv-präzise.
Im Wettbewerb halten Wahnwitz und Realitätssinn sich die Waage, beides hat im Kino seinen festen Platz: Der Wahlrömer Ferrara hat mit „Siberia“ eine psychoanalytisch gepolsterte Halluzinationssammlung aus dem Unbewussten eines offenbar schwer angeschlagenen Einsiedlers (Dafoe) zur geneigten Traumdeutung vorgelegt.
Nur unwesentlich weniger durchgeknallt gibt sich das französische Comedy-Duo Gustave Kervern und Benoît Delépine, das in „Effacer l’historique“ (Verlauf löschen) den digitalen Alltagsirrsinn, mit dem wir alle leben, in Form einer dramaturgisch nur lose verbundenen, dennoch erstaunlich amüsanten Sketchparade auf den Punkt bringt: täglich zwanzig Mal Fotos mit Brücken, Autos oder Ampeln anklicken müssen; Datenverarbeitungsregularien oder Geschäftsbedingungen, die kein Mensch mehr lesen will, akzeptieren; gefilmt und ungefragt online gestellt werden; Likes, Friends und Follower zum Sonderpreis im Tausenderpack per indischer Skype-Schaltung erwerben.
Detailstudie einer psychischen Ausnahmesituation
Und inmitten des Getöses all dieser Bestandsaufnahmen aus einer komplett umnachteten Welt erwischt einen dann plötzlich ein Film wie Eliza Hittmans „Never Rarely Sometimes Always“, der in aller Stille und Souveränität eine sehr trostlose Geschichte erzählt: Eine 17-Jährige (Sidney Flanigan) muss sich in Begleitung ihrer Cousine (Talia Ryder) aus der amerikanischen Provinz auf eine Reise nach New York machen. Sie ist schwanger, was ihre Eltern nicht erfahren dürfen, sucht eine Abtreibungsklinik. Der dritte Film der New Yorker Regisseurin und Autorin ist die Detailstudie einer psychischen Ausnahmesituation; die Vorgeschichte der ungewollten Schwangerschaft bleibt im Dunkeln, aber die schrittweise Enthüllung der ganz alltäglichen Ausübung sexueller Belästigung und Gewalt trifft einen umso härter, als Hittman keinerlei Schockeffekte oder auch nur ansatzweise spekulative Bilder bemüht.
Ohne die beiden jungen Darstellerinnen aber, die sich ohne jede Schauspielerfahrung auf das Wagnis dieses nüchternen Dramas eingelassen haben, wäre der Erfolg der Inszenierung nicht denkbar. Insbesondere Flanigan trifft als introvertiertes Mädchen, das alles daran setzen muss, eine Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch zu finden, jeden Ton. Für jene junge Performerin gilt dasselbe wie für Buch und Regie: Es sind deutliche Bewerbungen für die Hauptpreise dieses Festivals.
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