Sollte man als angehender Diktator bereits sämtliche Spielarten der Macht kennen und beherrschen?
Trojanow
Ach, wissen Sie, Diktatoren sind in diesem Zusammenhang langweilig; viel interessanter als Virtuosen der Macht sind jene, denen es gelingt, auf der Klaviatur der Herrschaft auch die leiseren Töne anzuschlagen, die sich und ihre Interessen durchsetzen mit Manipulation, Fälschung und Verführung. In Österreich wäre der ehemalige Bundeskanzler Sebastian Kurz dafür ein gutes Beispiel. Er hat auch ohne diktatoriale Befugnisse der Demokratie Schaden zugefügt.
„Das Buch der Macht“ ist Ihre Nacherzählung eines 1897 entstandenen Klassikers der bulgarischen Literatur über die Mechanismen der Macht. Was haben Sie aus der historischen Machtdarstellung für die Gegenwart gelernt?
Trojanow
Es liest sich für mich realistisch und gegenwärtig. Nicht nur aufgrund treffsicherer Sentenzen wie: „Von unten her Ignoranz – von oben her Arroganz.“ Beim Lesen fallen einem zudem immer wieder Beispiele aus der Gegenwart ein: hier Trump, dort Putin, hier ein deutscher Verkehrsminister, dort ein britischer Premierminister. Das Schaudern ist jenem ähnlich, das uns täglich in den Nachrichten überkommt, wenn wir die aktuellen Geschehnisse mitkriegen, von allen rhetorischen Floskeln und populistischen Parolen entkleidet. Die Macht in diesem Buch ist wahrlich nackt! Natürlich sind die Möglichkeiten von Propaganda und Gehirnwäsche heute ganz andere als vor mehr als 100 Jahren, aber die Mechanismen sind im Wesentlichen gleich geblieben.
„Ich erwarte keine Zuneigung“, lässt Stojan Michailowski seinen Wesir im „Buch der Macht“ sagen. „Solange sie mich fürchten, habe ich nichts zu befürchten.“ Macht muss sich offenbar um keinerlei Sympathiewerte kümmern.
Trojanow
Das beginnt ja schon in den kleinteiligeren Hierarchien unseres Alltags! Die Vorgesetzten werden meist gefürchtet, die Uniform soll einschüchtern. Der Untertanengeist im Menschen kann leider aktiviert und instrumentalisiert werden. Das spielt auch in repräsentativen Demokratien eine Rolle. Viele Wählerinnen in den USA haben ihre Unterstützung damit erklärt, Trump sei ein starker Staatsmann, weil er weltweit „gefürchtet werde“. Oder nehmen Sie die Art und Weise, wie Elon Musk sich neulich mit einer riesigen Kettensäge inszeniert hat, quasi als Zerstörer aus einem Horrorfilm. Am Ende des Tages gilt das Diktum des Wesirs: „Ein Karrierist im Staate muss eine einzige Theorie kennen, die des Lasters, und eine einzige Methode beherrschen, die der Unterwerfung.“
Michailowskis Erzählung flankieren Sie mit zahllosen Stimmen bedeutender Philosophen und Pragmatiker des Herrschens: Hannah Arendt und Simone Weil, Aristoteles und Nicolás Gómez Dávila, Kautilya und John J. Mearsheimer, Nietzsche und Nizāmulmulk. Das Wesen und die Wirkung von Macht scheinen ein schier endloses, nie gänzlich enträtseltes Thema zu sein.
Trojanow
Allerdings gibt es in der Literatur gar nicht so viele ungeschminkte Beschreibungen der machtpolitischen Realitäten, es dominiert die illusionäre Schönrednerei, die idealistische Theorie. Unzählige Intellektuelle haben sich als Make-up-Künstler der Herrschaft verdingt, nur wenige haben sie entschieden abgeschminkt. Es war nicht so einfach, die realistischen Stimmen zu finden, weswegen ich auf meiner Suche bis nach Japan und China, Kolumbien und Kalifornien gekommen bin. Manches stammt aus den letzten Jahren, manches ist mehr als zwei Jahrtausende alt.
Im Weißen Haus in Washington und im Moskauer Kreml sitzen mit Donald Trump und Wladimir Putin zwei Fanatiker der Macht. Ist die Welt verloren?
Trojanow
Nun, beide sind keine Fanatiker, sondern Krämer und Kleingeister, die das Instrumentarium des Herrschens einseitig, aber momentan noch erfolgreich beherrschen. Das kann sich schnell ändern. Zu ihrer Wirkungsmacht gehört, dass die momentan Unterlegenen sich verloren glauben. Deshalb die – historisch betrachtet – erstaunliche und erschreckende Kontinuität von Macht. „Das Buch der Macht“ zeigt auch, wie fragil der Beton der Macht ist, wie selbst kleine Risse unter Umständen das ganze Konstrukt bedrohen können. Putin selbst ist getrieben von einer solchen, für ihn traumatischen Erfahrung – der unerwartete Untergang der totalitären Sowjetunion. Die Kehrseite der rohen Herrschaft ist ihre wunde Verletzlichkeit.
Trump scheint seine zweite Amtszeit gemäß einem Satz des NS-Juristen Carl Schmitt anzulegen: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“
Trojanow
Gerade Juristen sind Meister darin, das offensichtlich Verwerfliche als legitim zu definieren, wenn es der Herrschaft dient, und auf einmal Folter zu rechtfertigen, die Verfassung einzuschränken, den Primat der präsidialen Autorität zu erweitern, die Gewaltenteilung infrage zu stellen. J.D. Vance, der Vizepräsident der USA, der solche Vorschläge jüngst unterbreitet hat, ist immerhin Jus-Absolvent der Eliteuniversität Yale. Eine wunderbare Passage aus Michailowskis Buch lautet: „Denn wer zu sehr auf sein Recht poche, der fördere die Rechtlosigkeit, und ein Recht, das nicht nachgeben könne, schade der Gerechtigkeit, und ein Recht ohne Rechtsbewusstsein verursache Unrecht, und ein Übermaß an Rechtschaffenheit leiste der Ungerechtigkeit Vorschub.“ Das Recht im Dienste der Herrschaft, zusammengefasst in einem Satz!
Er habe, bekennt der Wesir in „Das Buch der Macht“, mit „zielstrebiger Beharrlichkeit Gift in das Maul der Öffentlichkeit“ gegossen. Es wirkt fast so, als habe Michailowski Trump bereits vorweggenommen.
Trojanow
Nicht nur Trump! Aber wenn man Sätze liest wie „ein Mensch mit einem Magen, der alles verdaut, und einem Gehirn, das stets an Verstopfung leidet“ – an wen muss man da sofort denken? Oder was beschreibt unsere postfaktologische Zeit besser als folgendes Zitat: „Die besten Lügen schaffen sich selbst ab, indem sie zur neuen Wahrheit werden.“
Amerika ist die älteste Demokratie der Welt. Zugleich sitzt im Weißen Haus der mächtigste Mann des Globus. Wie lässt es sich mit diesem augenfälligen Widerspruch umgehen?
Trojanow
The land of the brave and free, heißt es. Und dann erleben wir, wie die Tapferen und Freien innerhalb von kürzester Zeit alle ihre Überzeugungen in den Wind schießen. Bei der Anhörung von Robert Kennedy Jr. wurde dieser neulich als Impfgegner durch den Republikaner Bill Cassidy als Gesundheitsminister bestätigt, der als Arzt sein Leben lang für Impfungen gekämpft hat! Da fiel mir wieder der Wesir ein: „Die Herrschaft kann Eigensinnige nicht brauchen, sondern nur wendige Akrobaten der Arschkriecherei.“
„Es ist verboten zu töten; daher werden alle Mörder bestraft“, schrieb Voltaire. „Außer sie töten in großer Zahl und zum Klang von Trompeten.“ Putin dürfte den Schalmeienklängen ergriffen lauschen.
Trojanow
Diese Einsicht sollte meines Erachtens im Schulunterricht als Einführung in die Weltgeschichte dienen: In der Politik kommt es auf die Größenordnung an, nicht auf die moralische Ordnung.
Shakespeare schrieb: „Denn schlimm ist die Welt und kommt zum bösen Schluss / Wenn man solch Unrecht stumm mit ansehen muss.“ Sind wir Zeuge unseres eigenen Untergangs?
Trojanow
Der Barde war ein raffinierter Provokateur, der sich oft mit Tyrannei und Herrschaft beschäftigte, aber vieles verklausuliert formulierte, denn zu seiner Zeit konnte man schnell seinen Kopf verlieren. In diesem Satz besteht der Stolperstein aus dem Wort „muss“. Dieses „muss“ ist unser Gefängnis, aber wir müssen nichts – Demokratie wird nicht von Institutionen geschützt, sondern von aktiven, kämpferischen Demokraten. Und die Schlacht zwischen dem Wohl der Allgemeinheit sowie den individuellen Menschenrechten einerseits und den Interessen der Macht beziehungsweise Herrschaft andererseits wird immer wieder neu geschlagen. „Untergang“ ist eine Vokabel aus dem religiösen Jargon. Kritische Menschen werden die Macht infrage stellen, solange es sie gibt.