Biennale 2019: Gegenwartsdiagnosen in Venedig
Ein ramponiertes Fischerboot mit gigantischem Leck ragt meterhoch vor dem Betrachter am Biennaleschauplatz Arsenale, einer ehemaligen Schiffswerft, auf. Das gewaltige Gefährt wird von einer schweren Stahlhalterung zusammengehalten; nur sie verhindert, dass es auseinanderbricht. Kunst oder nicht Kunst? Das ist hier nur so lange die Frage, bis man erfährt, dass es sich um ein Projekt des Schweizer Künstlers Christoph Büchel handelt: „Barca Nostra“ ist ein gekonnter Schachzug des Kurators Ralph Rugoff, der die aktuelle Biennale di Venezia (11.5. bis 24.11.2019) gestaltet hat. Sein diesjähriges Motto: „You May Live in Interesting Times“. Im Pressetext zu „Barca Nostra“, einem Werk, das die politischen Verhältnisse der Gegenwart geradezu emblematisch widerspiegelt, betont Rugoff, dass dieses Schiff ein „interessantes Zeichen“ für die Zeiten sei, in denen wir leben. Aus einem Wrack wurde auf diese Weise ein Denk- und Mahnmal für die Opfer der größten Flüchtlingskatastrophe, die je im Mittelmeer stattgefunden hat – rund 1000 Menschen kamen 2015 ums Leben, als der Kutter vor der libyschen Küste mit einem Rettungsschiff kollidierte.
Rugoff, der gebürtige New Yorker, der seit 2006 die Londoner Hayward Gallery leitet und in der Kunstszene als smarter Popularisierer gehandelt wird, macht bei dieser Biennale vieles richtig. In Wort und Bild erscheinen die großen Tragödien und Konflikte unserer Zeit: Foto-Storys, die etwa in Indien (Künstler: Gauri Gill/Soham Gupta) und an der Grenze von Israel-Palästina (Rula Halawani) aufgenommen wurden, erzählen von Alltag und Katastrophen – wie überhaupt das Narrative auch in den zahlreichen Filminstallationen heuer eine große Rolle spielt. Die Kunstaktivistin Zanele Muholi aus Südafrika zeigt in surrealen Inszenierungen hyperstilisierte Selbstporträts mit eindringlichen Blicken, thematisiert dabei die dunkle Pigmentierung ihrer Haut. Das Trendbarometer der angesagten Kunstkontinente schlägt in dieser Saison eindeutig in Richtung Afrika und Asien aus.
Opulent inszenierte Effekthascherei
Gendergerechtigkeit, politische Dringlichkeit, angemessene Repräsentanz von Minderheiten: Auf den ersten Blick liefert Rugoffs Biennale alles, was der zeitgenössische Diskurs so fordert. In dieses Bild passt auch, dass der Menschenrechtsaktivist Jimmie Durham vom Stamm der Cherokee den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk erhält. Trotzdem bleibt man als Biennale-Gast seltsam unberührt und unbefriedigt. Viele der opulent inszenierten Kunstwerke, die mit multisensorischer Wucht überwältigen wollen, kratzen nur effekthascherisch an Oberflächen oder warten mit allzu schlichten Gegenwartsdiagnosen auf. Die Arbeiten des chinesischen Künstlerduos Sun Yuan und Peng Yu etwa passen eher in einen Themenpark als in eine Kunstausstellung: In der Installation „Can’t Help Myself“ versucht ein programmierter Industrieroboter eine auseinanderfließende Substanz, die an Blut erinnert, zusammenzuhalten. Die hektischen Bewegungen seiner Stahlarme erinnern an ein wildes Tier, das in einem Käfig gefangen gehalten wird. Anderswo sieht man eine Kuh, die auf Schienen im Kreis fährt, oder eine Eisentür, die wie in der Geisterbahn an eine Wand knallt.
Rugoff wartet mit ungeheurer Angebotsfülle auf, die jedoch nicht selten mit einer gewissen Banalität einhergeht: das Fragment einer Mauer in Mexiko von Teresa Margolles etwa, dekoriert mit Stacheldraht, das geradezu zwangsläufig an Donald Trump und sein megalomanes Bauprojekt denken lässt. Der Schein bestimmt das Bewusstsein.
Im österreichischen Pavillon darf unterdessen nach Jahrzehnten männlicher Dominanz und nach unzähligen Appellen der kritischen Öffentlichkeit nun endlich eine Künstlerin ganz allein den Hoffmann-Pavillon bespielen. Dabei ist Renate Bertlmann mit 76 Jahren längst eine Grande Dame der feministischen Kunst, deren Werk bis in die 1970er-Jahre zurückreicht: Damals rüttelte die Künstlerin mit ihrer übersexualisierten Kunst – Brüste, Sex Toys und unterschiedliche Varianten des Phallus ziehen sich leitmotivisch durch ihre Arbeit – an den wertkonservativen Grundfesten der Gesellschaft. Mit ihrer drastischen Körperkunst stellte sie Tabus infrage und erlebte deshalb jahrzehntelang Diskriminierungen, sowohl durch Männer als auch durch Feministinnen.
Katastrophe aus der Idylle
Heute noch stiftet Bertlmann mit ironischen Arbeiten im spaßbefreiten Raum der politischen Korrektheit Irritation – zuletzt forderte sie die Ernennung einer Päpstin. Für den Gartenbereich des Pavillons hat Bertlmann nun ein neues Werk ersonnen: ein opulentes und sinnlich flirrendes Rosenmeer aus Muranoglas, wie gemacht für Instagram. Es wirkt auf den ersten Blick wie Austro-Kitschkunst im Stil der Trapp-Familie, bis man schließlich erkennt, dass die Glasblumen mit aggressiv aufgerichteten Dornen aus Metall bekrönt sind – eine simple Metapher für die Katastrophe, die aus der Idylle wächst.
Den Innenraum hat Felicitas Thun-Hohenstein, Kommissarin des österreichischen Pavillons, hingegen strikt retrospektiv angelegt. Sie zeigt das starke Frühwerk von Bertlmann, in dem die Künstlerin mit Verve weibliche Rollenklischees und Genderkrisen thematisiert: In den provokanten Arbeiten werden Dildos angebetet; man sieht eine im Rollstuhl sitzende, schwangere Braut und eine gezahnte Urvagina. Diese frühen Arbeiten hätte man in ihrer dreidimensionalen Attraktivität und in ihrer haptischen Qualität inszenieren können; stattdessen wurden sie auf schwarz-weißen Wandtapeten mit historischer Patina ausgestattet. In ihrer heroischen Aufbruchszeit hat Bertlmann beispielhaft vorgeführt, wie man Widerständigkeit leben kann – trotz schlechter Arbeitsbedingungen und einem für Frauen unwirtlichen kulturellen Umfeld.
Die Ästhetik des Riskanten, die von Kommissarin Thun-Hohenstein ständig beschworen wird, hätte sie überzeugender vermitteln können, wenn die mutigen Werke aus Renate Bertlmanns Vergangenheit als Highlights der Ausstellung präsentiert worden wären. So erscheinen sie wie traurige Archivalien in einem sentimentalen Gedächtnisraum. „DISCORDO ERGO SUM“ (Ich stimme nicht zu, also bin ich), so der Titel der Ausstellung – eine Abwandlung des alten Mottos der Künstlerin, „AMO ERGO SUM“ (Ich liebe, also bin ich), hätte das Zeug gehabt, tatsächlich als kritisches Statement zu einer politisch mehr als aufgewühlten Gegenwart zu gelten.