Welt in Flammen: Eine Bilanz der 75. Filmfestspiele in Venedig
1. Das Kino kritisiert (und spiegelt) sich unaufhörlich selbst
Die Abgründe des Starsystems sind Hollywoods fixe Idee, Sexismus und Chauvinismus die wunden Punkte der Industrie. Das amerikanische Kino bezieht seit jeher große Lust aus Selbstbespiegelung und -reflexion. Auch im Programm des diesjährigen Filmfests am Lido fanden sich etliche Arbeiten, die den Druck des jähen Ruhms und die Psychokrisen gebrochener männlicher Helden thematisierten. Manche, wie Bradley Coopers nostalgisches Lady-Gaga-Musical "A Star is Born", taten dies naiv, andere scharfsinnig: Der junge US-Schauspieler Brady Corbet etwa verfolgt in "Vox Lux", seiner zweiten Regiearbeit (nach "The Childhood of a Leader"), den Aufstieg einer Schülerin, die - als Überlebende eines Amoklaufs - zum Medienliebling und Superstar avanciert, über fast zwei Jahrzehnte. "Vox Lux", mit Scott Walkers mysteriöser Musik unterlegt, ist zu gleichen Teilen zynisch, gewagt und berührend: eine Tiefenbohrung in Sachen Karrierewahn. Gerade angesichts der heftigen Diskussionen, die auch heuer wieder über den beschämend niedrigen Anteil an Regisseurinnen im Wettbewerbsprogramm geführt wurden, erschien die Feinzeichnung einer gebrochenen männlichen Psyche am Platz: Der mexikanische Regie-Außenseiter Carlos Reygadas denkt in "Nuestro tiempo" (Unsere Zeit) in schöner Ambivalenz über den Machismo eines Ranchers nach, der - von Reygadas wenig eitel selbst gespielt - seine Ehe mit sexueller Libertinage, zu der er nicht fähig ist, zu retten versucht.
2. Der Seitensprung ins Historische macht sich (meist) bezahlt
Wer im Kino von der Gegenwart nicht mehr erzählen kann, weil die aktuellen Bilder und Geschichten zu belastet erscheinen, weicht ins Feld des Historischen aus, um dort erst recht nach Parallelen zum Hier und Jetzt zu suchen. Am Hof der englischen Königin Anne Stuart findet der Grieche Yorgos Lanthimos (in "The Favourite") nicht nur Gelegenheiten zu ausufernder Bilderfantasterei, sondern auch grelle Szenen sexueller Devianz und stupider Machtausübung. Zwei erstklassige Western versorgten dieses Festival mit unorthodoxen Rückblicken in die Geschichte Amerikas - und viel finsterem Humor: Wie die blutige Coen-Brothers-Groteske "The Ballad of Buster Scruggs" faszinierte auch "The Sisters Brothers", eine kluge Genre-Hommage des französischen Filmemacher Jacques Audiard ("Ein Prophet") - John C. Reilly und Joaquin Phoenix stellen zwei Kopfgeldjäger dar, die dem Goldrausch verfallen (mit desaströsen Konsequenzen).
Um zwei historische Massaker kreisten die neuen Filme des Mexikaners Alfonso Cuarón, der mit "Roma" den wohl stimmigsten Film des Wettbewerbs lieferte, und der Brite Mike Leigh, der in "Peterloo", inszenatorisch ein wenig schwerfällig, die von der Regierung 1819 angeordnete brutale Gewalt gegen demokratische Demonstranten in Manchester rekonstruierte. Die akute Bedrohung durch den internationalen Terrorismus wurde in zwei weiteren Thrillern plastisch: "Suspiria", Luca Guadagninos politisiertes Remake eines kultisch verehrten Hexenschockers von Dario Argento, denkt den hermetischen Horror des Originals in die Zeit seiner Entstehung, in den Deutschen Herbst 1977 weiter -und baut den Untergang der RAF ebenso wie die Nachwehen des Holocaust in die übernatürliche Story ein. Zu dem Blutbad, das der norwegische Rechtsextreme Anders Behring Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya 2011 anrichtete, gibt es nun, nach Erik Poppes entbehrlichem "Utøya, 22. Juli" (2018), noch einen zweiten Film: Der Brite Paul Greengrass konzentriert sich eher auf das Gerichtssaaldrama als auf Breiviks Gewaltakte, bleibt aber ebenfalls in filmischen Konventionen hängen.
3. Die Online-Welt hat das Gegenwartskino fest im Griff
Ein Viertel des heurigen Wettbewerbsprogramms - und durchaus einige der profiliertesten Arbeiten des Festivals ("Roma", "Suspiria", "Buster Scruggs") - stellten allein die Online-Giganten Netflix und Amazon, die sich damit triumphal als inzwischen global agierende Großproduzenten etablierten. Der fundamentale Umbau der Filmkunst weg von der alten Auswertungskette, die lange automatisch vom Lichtspielhaus zu den Datenträgern geführt hatte, ist vollzogen. Festivals wie jenes in Venedig, nebenbei das älteste der Welt, sind die Ausläufer einer Filmkultur, die sich immer deutlicher in Traditionsbewahrung und online Nutz-und Bearbeitbares spaltet. Der einzige Regisseur, der es wagte, die Folgen der digitalen Revolution auf die kulturelle Landschaft direkt zu analysieren, ist Olivier Assayas. Der Franzose legt in "Doubles vies" hintergründig komisch die aktuellen Debatten im Pariser Verlagsmilieu offen, wo man sich über E-Books und Leserschwund ereifert -und nebenbei aber auf analoge erotische Komplikationen auch nicht verzichten mag.
4. Die bildende Kunst birgt im Kino ungeahnte Fallen
Man spricht angesichts großer Bilder gern leichthin von Kinomalerei. Wenn es aber tatsächlich um das Malen geht, lässt das Bewegtbildmedium meist aus. Wie es etwa "Werk ohne Autor", Florian Henckel von Donnersmarcks sehr frei wiedergegebene Filmbiografie des Künstlers Gerhard Richter, in den Wettbewerb dieser Filmfestspiele geschafft hat, bleibt rätselhaft: ein Kniefall vor dem Regisseur von "Das Leben der anderen"? Denn das über dreistündige Spektakel, das NS-Euthanasiedrama und Kunst-Crashkurs für Einsteiger sein will, genügte nicht einmal stark herabgesetzten künstlerischen Mindestanforderungen. Zwei andere Stars der Malerei gaben sich anschließend in "At Eternity's Gate" die Ehre: Julian Schnabel als Regisseur und Autor versuchte darin Vincent van Gogh, den Willem Dafoe zerrüttet darstellt, gerecht zu werden - und brachte, weit entfernt zwar vom Donnersmarck'schen Kunstgewerbe, bloß rohe Wackelbilder und Allerweltsweisheiten zum tragischen Leben des Niederländers zustande.
5. Politik ist filmisch kaum zu fassen
Der gefallene Trump-Berater Steve Bannon nutzte in Errol Morris' jüngstem Porträt-und Interviewfilm "American Dharma" das ihm gewährte Podium. Aber politische Zusammenhänge sind im Kino nur über den Umweg der Poesie herzustellen: Der in Texas lebende Italiener Roberto Minervini dringt in "What You Gonna Do When The World's On Fire" ins finstere Herz des ganz alltäglichen amerikanischen Rassismus vor. Minervini begleitet mit der Kamera eine gegen Polizeiübergriffe und Justizunrecht agitierende Bürgerrechtlertruppe, die New Black Panther Party, durch die schwarzen Viertel von Louisiana. Dabei gelingen dem Italiener Momente außerordentlicher Schönheit und Ruhe. Aber die bittere Frage bleibt, bei aller dokumentarischen Anmut: Wie soll man reagieren, wenn die Welt in Flammen steht?