Die Angst der Kinder
Das verdrängte und verborgene Vertraute kehrt als Unheimliches wieder, das lehrt die Psychoanalyse. An „die Einsamkeit, Stille und Dunkelheit“, schrieb Sigmund Freud 1919 in seinen Notizen über „Das Unheimliche“, sei eine „bei den meisten Menschen nie ganz erlöschende Kinderangst gebunden“. Crewdson arbeitet, wie einst auch sein Künstlerkollege Mike Kelley, der 2004 eine Ausstellung über „The Uncanny“ konzipierte, in diesem Sinne: Er liebt es, das Irrationale zu betonen, auf die Geheimnisse, die Wunder und den Schrecken des Alltagslebens anzuspielen. „Mein Vater war Psychoanalytiker, Freudianer. Er hatte seine Praxis im Keller des Hauses, in dem wir lebten; ich belauschte seine Analysesitzungen manchmal heimlich.“
Crewdson benutzt das Licht, um von Abgründigem zu künden. „Im Kern betrachte ich mich als Geschichtenerzähler, allerdings ist das narrative Potenzial meines Mediums limitiert, denn jede Fotografie ist in der Zeit gefroren. So bleibt ihre Erzählung unaufgelöst.“ Das Unbestimmte, Ergebnisoffene an seinen Bilderzählungen weiß er zu schätzen. Er selbst ahne, wovon seine Bilder berichteten, aber am Ende sei das „irrelevant“. Auch er kenne die vollständigen Geschichten, die er andeutet, nicht. „Meine Bilder wollen nicht auf eine bestimmte Weise gelesen werden, in ihnen soll allzu Offensichtliches vermieden werden.“ Als wiederkehrende Themen nennt er: Einsamkeit, Isolation, Bindungssehnsucht.
In der Propter-Homines-Halle der Albertina zeigt man nun – bis 9. September – 80 Crewdson-Werke aus neun Serien, die vom Frühwerk (ab 1986) bis zu Arbeiten aus dem Jahr 2022 reichen. Unlängst habe die Schenkung eines anonymen Wohltäters 182 Arbeiten Gregory Crewdsons in die Albertina-Sammlung gespült, das sei „wie zehnmal Weihnachten“, sagt der Kurator der Ausstellung, Walter Moser: „Gregory Crewdson ist ein Künstler der Postmoderne; er geht auch der Frage nach, wie eine Wirklichkeit, die wir vorwiegend nur noch durch Medien erleben, im Bild neu konstruiert werden kann.“ Das Thema der Realität im medialen Umbruch mache die Postmoderne so reizvoll, meint Moser. Die Bildräume, die Crewdson schaffe, seien „raffiniert konstruiert, mit bewusst ‚falschen‘ Perspektiven und Spiegelungen. Seine Arbeit entzieht sich jeglicher Logik. Sie erscheint auf den ersten Blick dokumentarisch, verwandelt sich aber schon auf den zweiten erheblich.“
Als Teenager spielte Gregory Crewdson, geboren in Brooklyn im September 1962, Gitarre in einer Powerpop-Band namens Speedies. Die Gruppe veröffentlichte zwischen 1979 und 1981 zwei schamlos melodiöse Singles. Die Liebe zur Musik blieb ihm, im Jahr 2000 zierte eines seiner dunklen Werke das Cover eines Albums der mit ihm befreundeten Band Yo La Tengo.
Für einen Apokalyptiker tritt einem Gregory Crewdson erstaunlich freundlich gegenüber. Geduldig lässt er sich vor seinen Werken fotografieren, und im Interview erweist er sich als entspannter, auskunftsfreudiger Gesprächspartner. Er betrachte sich als Regisseur, der mit großer Crew, wie in einem Film, an seinen Bilderreihen arbeite: Jede seiner Arbeiten entstehe in drei Phasen, in Vorproduktion, Shooting und Postproduktion. Es nehme viel Zeit in Anspruch, Fotoserien zu konzipieren. Und so sehr man sich um Variationen und Neuerfindung auch bemühe: „Man entgeht sich selbst nicht. Jeder Künstler hat nur eine bestimmte Geschichte zu erzählen, folgt unausweichlich seinen Themen und Obsessionen. Man hat keine Wahl, bleibt an den Dingen hängen, die man, als man jung war, zu lieben und zu hassen gelernt hat.“
Denken in Standbildern
Seine spezielle Fotografie hat er in den frühen 1980er-Jahren entwickelt: „Ich habe Filme immer geliebt. Aber ich denke fotografisch, in Standbildern. Im akademischen Umfeld fühlte ich mich, als Legastheniker, nie zu Hause. Ich wusste im Grunde schon als Zehnjähriger, dass ich Fotograf werden wollte.“
Crewdsons epochale Serie „Beneath the Roses“ (2003–2008) wurde die letzte, die er auf analogem Fotomaterial festhielt. Damals benutzten er und sein Kameramann Richard Sands, der als Lichttechniker schon für Steven Spielberg gearbeitet hat und seit 1998 als Crewdsons Director of Photography agiert, noch 8x10-Großformatkameras. 2009 stiegen sie auf digitale Fotografie um. Der Unterschied sei nicht so gewaltig, wie man meinen könnte, sagt Crewdson, eher „pragmatisch“. Digital ließen sich die Ergebnisse besser kontrollieren, und man könne natürlich auch viel mehr fotografieren. „Aber die Arbeit hat sich nicht wirklich verändert.“
Sands choreografiere das Licht, das beherrsche er wie niemand sonst. „Wir müssen kaum noch miteinander reden.“ Rund zehn Menschen arbeiten unter Sands Ägide allein am Licht. „Oft sind unsere Lichtquellen in Autos, Häuser oder Kräne gebaut, erst das Licht erschafft diese Welten.“ Wird Crewdson nie mehr zur analogen Fotografie zurückkehren? „Sag niemals nie! Aber die Bedingungen müssten stimmen. Und meine Bilder sind ohnehin schon teuer genug.“ An die 30 Menschen arbeiten an jeder seiner Produktionen. In den Filmstudios, in denen seine nach Storyboards gebauten Interieurs entstehen, beschäftigt er große Crews, er braucht Produktionsdesigner, Masken- und Kostümbildnerinnen, Location-Manager und Handwerker.
Seit den späten 1990er-Jahren ist jedes seiner Bilder aus mindestens acht digital übereinandergelegten Negativen konstruiert, um jene Tiefenschärfe zu gewährleisten, die keine Kamera dieser Welt in einem Bild hinbekäme. Crewdson stellt seine Werke gewissermaßen in Schichten scharf, verleiht den Landschaften so ihre künstliche, hyperrealistische Klarheit.
Zwielichtspiele
Seine Bilder entstehen stets im Zwielicht, in der Abenddämmerung. Das Zeitfenster, in dem er fotografieren kann, ist klein; das natürliche Licht müsse mit dem künstlichen Licht interagieren, sich vereinen können. 20 bis 30 Minuten seien das „idealerweise“, sagt Crewdson. „Wenn es zu dunkel wird, werden die Bilder zu kontrastreich.“ Wetterabhängig sei er sowieso. „Dinge, mit denen man nicht gerechnet hat, passieren immer. Manchmal kooperieren die Leute im Ort nicht. Und das Licht ändert sich ständig.“ Aber aus Hindernissen bezieht er auch Energie. „Es ist Chaos. Unsere Lichtquellen hängen oft 15 Meter hoch in der Luft, an Kränen. Etwas geht immer schief.“ Aber dann komme er doch, der wunderbare Moment, an dem alles sich magisch ineinanderfüge, und man kriege, was man gesucht habe.
Neben dem Licht sind ihm die Schauplätze das Allerwichtigste. Monate vor der eigentlichen Aufnahme fährt er durch die kleinen Orte in seiner Umgebung, in Massachusetts, wo er mit seiner Familie lebt. „Ich suche bestimmte Straßen auf, in denen ich Tausende Male war. Ich suche das Vertraute, zugleich Undefinierbare, etwas außerhalb der Zeit Liegendes. Wenn ich eine Location gefunden habe, nimmt, ganz langsam, ein Bild in meinem Kopf Gestalt an.“
Es seien bloß zwei oder drei Orte, an denen er alle seine Außenaufnahmen fotografiert habe. Er sei ein „Gewohnheitstier“, bewege sich ungern aus seinem gewohnten Umfeld. „Es war hart für mich, nach Wien zu kommen“, lacht er. Es sind übrigens fast nie Schauspielprofis, die in Crewdsons Bildern auftauchen, er arbeitet lieber mit Menschen aus der Nachbarschaft. Die legendäre Gagosian-Galerie repräsentiert ihn, über den Kunstmarkt mag er trotzdem nicht nachdenken. Er wolle autonom arbeiten, sein Werk kontrollieren. „Galerien vertreten mich, aber ich bin von ihnen finanziell unabhängig, wende mich lieber an private Investoren und Sammler.“
Fotografie und Kino, vor allem Hitchcock, Lynch und Todd Haynes, seien seine primären Einflüsse, Spielbergs „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ sei „ein monumentaler Film“ für ihn; die Malerei, insbesondere Hoppers und Vermeers, auch Literaten wie Stephen King prägten ihn. Er liebe die Geschichte der Schwarz-Weiß-Fotografie, habe sogar seinen Sohn nach Walker Evans benannt. William Eggleston, Steven Shore und Joel Sternfeld seien Inspirationen.
„Im Spannungsfeld der klassischen Dokumentarfotografie“ sei Crewdsons Frühwerk entstanden, erklärt Kurator Walter Moser noch. Dann habe das Kino das Steuer übernommen. In seiner Serie „An Eclipse of Moths“ (2018/19) arbeitet Crewdson mit dem filmischen 16:9-Format. Hier werde seine Arbeit explizit sozialkritisch, so Moser; er stelle eine Kleinstadt in Massachusetts dar, „die nach der Abwanderung der Industrie wirtschaftlich und ökologisch ruiniert erscheint, mit aufgesprungenen Straßen, desolaten Gebäuden, heruntergekommenen Menschen. Dies alles verpackt er in seine verführerische Ästhetik; man wird hineingesogen in diese brillante Farbigkeit und perfekt gesetzten Oberflächen. Bis es einen am Kragen packt und man das Grauen zu spüren kriegt.“
Am Ende ist es wohl das, was in Gregory Crewdsons Bildern vor sich geht: All die Schönheit ist ohne das Schauerliche nicht zu haben – und so wird die nie ganz verlöschende Angst wieder wach, die man als Kind hatte, wenn es dunkel und die Welt undurchschaubar wurde.