Aggressions-Performer GG Allin bei einem Konzert

Body-Art: Der menschliche Körper als Schlachtfeld

Die Geschichte kreativer Selbstverletzung reicht vom Aktionismus bis zu Punk. Body-Art-Legende Marina Abramović hat soeben ihre Memoiren veröffentlicht, die Operationskünstlerin Orlan kommt diese Woche nach Wien. Die Kunst am eigenen Körper bricht radikal mit sozialen Tabus.

Drucken

Schriftgröße

Grüne Wände, große Lampen, ein Totenschädel auf dem Tisch. In dieser leicht pathetischen Kulisse sitzt die französische Künstlerin Orlan am 21. November 1993 - auf einem Operationsstuhl. Ihr Gesicht zieren Linien und Punkte, wie ein Schnittmuster. Die Aktion startet: Während ein Chirurgenteam mit Skalpellen die Haut am Hals der Performerin anhebt und Schnitte an ihren Schläfen setzt, liest diese Texte vor, lacht sogar, wendet ihr seziertes Gesicht in eine Kamera, welche die 90-minütige Aktion gerade in ihre New Yorker Galerie überträgt. Es ist die siebte von neun Performance-Operationen, die Orlan bislang aufgeführt hat, Titel: "Omniprésence". Wie die Künstlerin, die am Dienstag dieser Woche als Gast der Vienna Art Week im MAK erwartet wird, im profil-Interview erzählt, ging es ihr stets um Kritik an Schönheitsidealen, keineswegs um ihre Anpassung daran.

Wo sich die Kunst mit dem Körper befasst, geht sie bisweilen sehr weit. Die radikalste Form der Body Art - Orlan selbst hat für ihre Kunst den Begriff "Carnal Art" (Fleischeskunst) geprägt - lässt den Körper als Medium der Performance nicht unversehrt. "Your Body is a Battlefield" (Dein Körper ist ein Schlachtfeld): Der Spruch, den die US-Künstlerin Barbara Kruger einst auf Plakate drucken ließ, wird in der Body-Art wortwörtlich umgesetzt. All jene, die ihre Körper aus künstlerischen Motiven selbst verletzt, deformiert oder verwandelt haben, schufen in bildender Kunst, Musik, Theater und Populärkultur eine Subkategorie der Performance. Ihre Arbeiten am eigenen Leib dekonstruieren Identitäten, zerstören die Schutzschicht des Körpers, machen ihn selbst zum Material, stellen seine (vermeintliche) Integrität zur Disposition. Die Eingriffe müssen übrigens nicht immer blutig vonstatten gehen: Wenn der australische Medienkünstler Stelarc ein synthetisches Ohr in seinen Unterarm implantieren lässt ("Scale Ear", 2006), hinterfragt er damit - ganz ähnlich wie Orlan -die eigene körperliche Identität im Zeitalter exponentiell wachsender medizinischer Möglichkeiten: ein erster Selbstversuch als Cyborg, als Menschmaschine.

Brus‘ "Zerreißprobe"

Die Geschichte der Selbstverletzung in der Kunst beginnt zeitgleich mit der Geburt der Performance-Art und des Wiener Aktionismus. In den USA der 1970er-Jahre ließ sich Chris Burden in einer Galerie in den Arm schießen und auf das Dach eines VW-Käfers nageln. In Österreich kroch VALIE EXPORT 1973 zwischen elektrisch geladenen Drähten umher und fuhr für einen ihrer Filme mit dem Messer unter die Haut an den Fingernägeln. Ihr Kollege Günter Brus schnitt sich 1970 bei seiner "Zerreißprobe" den Hinterkopf auf und trank seinen eigenen Urin.

Niemand allerdings widmete sich der kontrollierten künstlerischen Selbstverletzung so vehement und ausdauernd wie Marina Abramović. In ihrer Aktion "Rhythm 0" stand sie, umgeben von 72 Gegenständen (darunter Nadeln, eine Schere, ein Skalpell und eine Pistole, aber auch Rosen, Federn und Olivenöl), 1974 in einer Galerie in Neapel und setzte sich stundenlang einem Publikum aus, das sie aufgefordert hatte, die verfügbaren Instrumente an ihr nach Belieben anzuwenden. Die Zuschauer schnitten Abramović die Kleider vom Leib, stachen ihr Rosendornen in den Bauch, setzten ihr den Pistolenlauf an die Schläfe und brachten ihr Verletzungen am Hals bei. Nach exakt sechs Stunden begann die Künstlerin wie geplant auf ihr Publikum zuzugehen -das die Flucht ergriff.

Dieser Tage veröffentlicht Abramović aus Anlass ihres 70. Geburtstags eine Autobiografie ("Durch Mauern gehen", Luchterhand Verlag), in der sie sich auch an ihre lebensgefährlichen Aktionen -und an die Aggressionsforschung, die sie damit betrieb erinnert: "Wir fürchten uns vor dem Leiden, und wir fürchten uns vor dem Tod. Bei ,Rhythm 0' hatte ich diese Ängste für das Publikum inszeniert und die Energie der Leute benutzt, um meinen Körper über seine eigenen Grenzen zu treiben. Dabei hatte ich mich mehr und mehr von meinen Ängsten befreit. Und während das passierte, wurde ich für die Zuschauer zum Spiegel - wenn ich so etwas schaffte, schafften sie es auch."

Opfer und Aggressor werden eins

Die Kunst der Selbstverletzung, das wird in Abramovićs Memoiren klar, ist stets auch eine Attacke auf das Publikum. Wenn sich jemand im Namen der Kunst selbst körperlich schadet, sind Opfer und Aggressor eins. Dass dies für Verstörung sorgen kann, liegt auf der Hand. Ein "sehr seriöser amerikanischer Kritiker", notiert Abramović, habe ihr einmal erzählt, dass er ihre Performances hasse -"weil sie ihn zum Weinen brächten". In den 1970er-Jahren, als sie ihre ersten Auftritte hatte, seien die Zeitungen in ihrer Heimatstadt Belgrad über sie hergezogen: "Was ich tue, habe nichts mit Kunst zu tun, schrieben sie. Ich sei nichts weiter als eine exhibitionistische Masochistin. Man sollte mich in ein Irrenhaus stecken."

Polizeieinsätze gehören bei Body-Art-Aktionen zur Begleitmusik. Stelarc berichtete von einer seiner Performances in New York, bei der er an Haken hing, die durch seinen Körper getrieben waren; Ordnungshüter gingen dazwischen und hinderten ihn daran, weiterzumachen. Von dieser Art der Kunstzensur wussten die Wiener Aktionskünstler, die aus den Avantgardeströmungen Happening und Fluxus in den 1960er-Jahren ihre extreme neue Körper-und Performancekunst schufen, ein Lied zu singen. Nach der berüchtigten Aktion "Kunst und Revolution" im Hörsaal eins der Uni Wien 1968, bei der Günter Brus alle verfügbaren Körperflüssigkeiten freisetzte und unter anderem Österreichs Flagge mit seinem Mageninhalt entweihte, wurde der Künstler wegen "Herabwürdigung der Staatssymbole" zu sechs Monaten verschärften Arrests verurteilt. Nach zwei Monaten Haft ergriff er die Flucht nach Westberlin. Auch Hermann Nitsch musste sich wegen seines blutigen Theaters, das ihm mehrwöchige Haftstrafen einbrachte, 1968 nach Deutschland absetzen.

"Der Körper wurde zur Leinwand", erklärte Brus retrospektiv 2006 in einem profil-Gespräch. "Und dann wurde der Körper zum Strich, später zur Schnittwunde. In der Selbstverletzung hab ich meine Grenzen gefunden." Auch Rudolf Schwarzkogler, der 1969, erst 28-jährig, nach einem mysteriösen Fenstersturz starb, inszenierte im Rahmen fotografischer Aktionen den eigenen Leib als Schmerzensbündel, als gefesselten, malträtierten, aufbrechenden Organismus. Die Pioniere der konsequenten Überschreitung sozialer Tabus formulierten ihre unbändige Wut auf eine bigotte Gesellschaft in Veranstaltungen, die gewitzt Chaos, Trieb und Unrat ästhetisierten.

Vom Wiener Aktionismus zum Punk

Die hohe, bis heute anhaltende Wirkung des Wiener Aktionismus lässt sich auch an ihrem Vordringen in die radikaleren Zonen der Popkultur festmachen. In der keineswegs nur klanglichen, sondern auch performativen Aggression des Punk etwa, der ab Mitte der 1970er-Jahre die globale Musikszene verwandelte, finden sich direkte Bezüge zu den Wiener Körper-Schockbildern. Die legendären Sex Pistols etwa spielten mit den visuellen Vorgaben der Aktionistengruppe: Die Körper-und Gesichtsbandagen, mit denen Pistols-Frontmann Johnny Rotten auf die Bühne trat, lassen sich auf Schwarzkogler zurückführen. Und ein Punk-Extremist wie der Amerikaner GG Allin, geboren 1956, zelebrierte die systematische Selbstzerstörung auf offener Bühne als blutig-antiautoritären, transgressiven Akt. Sein Körper sei "ein Tempel des Rock'n'Roll", sprach Allin einst, sein Fleisch, sein Blut und seine Flüssigkeiten seien "eine Kommunion für die Leute". Wenn Marina Abramović in einem profil-Interview 2012 auch davon sprach, "dass der eigene Tod die letzte Aktion sein kann, die man als Künstler setzt" - sie träumt davon, sich im Rahmen einer Kunstaktion in drei Städten zugleich bestatten zu lassen -, dann muss man GG Allin als Vorläufer dieser Idee anerkennen: Von den späten 1980er-Jahren an hatte er seinen öffentlichen Selbstmord angekündigt und immer wieder hinausgezögert. 1993 starb er nach einem Konzert ungewollt an einer Überdosis Heroin. Wenn man den Aktionismus konsequent weiterdächte, käme man ganz logisch zum Suizid, sagt auch Günter Brus: "Aber da ich meinen Freitod nie angestrebt habe, blieb es immer gerade noch im Symbolischen" - auch wenn es oft "grauenhaft ausgesehen" habe. Übrigens habe er seine Verletzungen, "fast wie ein Schamane, nie gespürt. Da entwickelt man Gegenkräfte." Davon spricht auch Abramović: Ihre Theorie des "Körperdramas" geht von der immensen Energie aus, die im Publikum entstehen kann, wenn man sich in einer Performance verausgabe -und diese Energie speichere sich im Körper der Künstlerin, wodurch sich Schmerz leicht neutralisieren lasse.

Die Mittel, mit denen Künstler ihren eigenen Körper malträtieren, ähneln einander oft. So ließ sich der Designer Stefan Sagmeister einst die Ankündigung zu einer Präsentation in den Oberkörper ritzen, die Künstlerin Catherine Opie schnitt sich Kinderzeichnungen in den Rücken, und Elke Krystufek bearbeitete ihre Haut mit einem Stanleymesser. Der Körper wird beschriftet, kodiert, zum Bild-oder Schriftträger. Auch die etablierte Bühnenkunst kennt übrigens ihre Body Artists: Die katalanische Theaterkünstlerin Angélica Liddell, 50, gehört seit Jahren zu den fixen Größen im internationalen Festivalzirkus. Ihre bei den Wiener Festwochen 2012 präsentierte Arbeit "Haus der Gewalt" strapazierte das Publikum nicht nur durch die fünfstündige Laufzeit: Die Performerinnen ritzten sich mit Klingen Arme und Beine auf, zapften einander später direkt aus den Venen Blut ab.

Nicht nur eine misstrauische Öffentlichkeit, auch die Kunstfachwelt diskutiert extreme Body-Art-Aktionen durchaus mit Blick auf vermeintliche psychische Deformationen. Die Arbeit Orlans etwa -der es gar nicht um ihr eigenes Schmerzempfinden geht -werfe "die beunruhigende Frage" auf, "ob Masochismus eine legitime Komponente ästhetischer Anliegen sein kann oder ob wir es hier nicht etwa mit illustrierter Psychopathologie zu tun haben", schrieb die Kunsthistorikerin Barbara Rose 1997. Sie sah zudem die Schockwirkung der Body Artists skeptisch: Bilder von Selbstverletzungen seien längst auch von einem bürgerlichen Publikum akzeptiert.

Übermäßige Toleranz kann jedoch selbst eine weltberühmte, im New Yorker Museum of Modern Art präsente Künstlerin wie Marina Abramović nicht feststellen: "Die Gesellschaft tut allen Gewalt an, die sich öffentlich ausstellen und idolisiert werden. Sie machen dich zum Idol -und dann bringen sie dich um."

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer