Butterfly und Babbelplast: Die Bregenzer Festspiele
Bregenz ist nicht das Paris Westösterreichs, auch kein Venedig von Vorarlberg. Bregenz ist Bregenz am Bodensee, die Kleinstadt mit saisonalem Seebühnenspiel, zu dem sich heuer das 25-Jahr-Jubiläum des Kunsthauses Bregenz und die Sommerausstellung im Palais Thurn und Taxis gesellen. Der Festspielauftakt verlief vergangenen Mittwochabend holprig: Nach einer knappen Stunde Spielzeit übersiedelte Puccinis „Madame Butterfly“ unwetterbedingt vom See ins Festspielhaus.
Das Wetter macht eben auch in Bregenz, was es will. Wäre das Wetter allerdings in Bregenz erfunden worden, hätte es bei der Puccini-Premiere selbstverständlich assistiert.
In Bregenz geht zusammen, was sich sonst schwer gesellt: Weltoffenheit und Provinzbockigkeit, Traditionalismus und Avantgarde, Fahrradstadt und Blechlawine, Spektakel und Landstille. Kunst und Kultur treffen auf Gastronomie, Hotelgewerbe, Bauunternehmen, Boots- und Fahrradverleihe.
Insofern ist das diesjährige Plakatsujet, das die US-Flagge, eine Geisha und ein Samuraischwert zeigt, grob missverständlich: Voneinander getrennt wird in Festspielzeiten so gut wie nichts, bis Ende der Saison am 21. August wird das große Miteinander gefeiert. „Zemma hocka“, das macht man in Vorarlberg gern. Selbst Gottvater hat in Vorarlbergs Landeshauptstadt am Rand mit den Festspielen zu schaffen, doch dazu später.
Die Politik macht derweil Sommerpause. Die Wirtschaftsbund-Affäre um mutmaßlich versteckte Parteienfinanzierungen samt unschöner Verlagsverflechtungen mit der seit Jahrzehnten nach Gutsherrenart regierenden Ländle-ÖVP ist weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden, der Landeshauptmann in mehrwöchigem Krankenstand.
Im Folgenden also eine kleine Rundreise in das Dreieck von Seebühne, Palais Thurn und Taxis und Kunsthaus plus etlicher Abstecher, um eine Ahnung davon zu bekommen, was Bregenz zur Festspielzeit zusammenhält. Und am Ende gehen wir mit dem Bregenzer Bürgermeister im Bodensee buchstäblich baden.
Die Festspiele sind ein Phänomen großer Zahlen. 6855 Sitzplätze umfasst die Seebühne, 1500 Menschen sind im erweiterten Seebühnenbezirk beschäftigt;
27 Millionen Euro beträgt das Jahresbudget. Knapp 200.000 Tickets wurden diese Saison aufgelegt. Das Soundsystem auf dem See nennt sich BOA 2.0: Bregenz Open Acoustics. Die Festspiele, so der Schluss einer Wertschöpfungsanalyse 2020, generierten dem Land alljährlich 165 Millionen Euro Umwegrentabilität. „Umwegrentabilität“ ist ein Begriff, der hier oft fällt. Meist wertschätzend gemeint, selten mit zartem Magenzwicken geäußert.
Man kann in Bregenz fragen, wen man will: Von den in Vorarlberg nicht gerade unüblichen Neidreflexen und der habituellen Mäkellust sind die Festspiele so gut wie ausgenommen. 2020 war pandemiebedingt – und erstmals seit dem Gründungsjahr 1946 – Ruhe auf dem See. Es soll nicht wenige gegeben haben, die in den Juli- und Augustwochen die plötzliche Stille zu schätzen wussten.
Über dem Eingang des „Magazin 4“ schimmert ein Cadillac Coupe DeVille, Baujahr 1966, mit der Unterschrift des Künstlers Gottfried Bechtold in der Sonne. Bechtold, 74, hinterlässt seine Signatur gern auf großen Dingen: Staumauern, Schneefeldern, Hauswänden.
Das Kulturzentrum zeigt gerade eine Ausstellung zu Bechtolds Unterschriftenaktionen. Eine schwarze ÖBB-Lokomotive mit großer „G. Bechtold 22“-Kennzeichnung kreuzt inzwischen das nationale und internationale Schienennetz. Wenn Bechtold erzählt, fliegen die Jahrzehnte vorbei. 1982 bewarb er sich
aktionistisch für die Festspiele-Intendanz. Daraus sei nichts geworden, dem Himmel sei dank, sagt er heute. „Ich habe nichts gegen die Festspiele, bringe es aber auch nicht guten Gewissens über die Lippen, dass mir das touristische Tamtam ausschließlich gefällt.“ Bechtold trifft man nicht auf der Suche nach Konsens, sondern um zu erfahren, wie unterschiedlich man auf etwas blicken kann.
Interessant der anschließende Fußweg zur Seebühne. Während nahe der Haupteinkaufsstraße ein Lokal damit wirbt, dass man nach dem Konsum von zehn Bieren unter Garantie nicht mehr stehen könne, ändert sich der Tonfall, je näher man dem Spiel auf dem See kommt. Inschriften künden von „Champagne“, der Straßenkehrer lenkt ein elektrisches Müllmobil, an dem vier Besen, zwei Rechen, fünf Harken und ein Laubbläser baumeln.
Im „Wirtshaus am See“ wird der Drink „Lady Butterfly“ („Prosecco le Contesse mit Zitronensorbet und Minze“) mit 6,80 Euro veranschlagt. An einem der Terrassentische ist auf der kleinen Schiefertafel als Platzanweisung die Nummer „324“ zu lesen. Eine Stadt putzt sich heraus. Notfalls mit Laubbläserlärm.
Man muss ganz vorn anfangen, um zu verstehen, was die „Randspiele“ waren, denen im Palais Thurn und Taxis, einen Fußmarsch unter heißer Sonne vom See zurück, gerade die Sommerausstellung gewidmet ist. „Da war ein Loch“, ist die Schriftstellerin Monika Helfer an einer Ausstellungswand zitiert: „Da war ein Loch, und jeder hat es gespürt. Für junge Menschen gab es überhaupt nichts. Null.“ Die „Randspiele“ waren ab 1972 wenige Jahre lang als Hilfeschrei konzipiert: gegen den klirrenden Konservativismus im Land, gegen den damals mürben Mythos der Festspiele.
Auf Fotos ist eine Aktion dokumentiert, der sogenannte „Babbelplast“ beim langsamen Rollen durch die Bregenzer Fußgängerzone, eine enorme Luftblase, die sich entlang von Geschäftsauslagen und Cafés schob. „Pneumatisches Kommunikationsobjekt“ wurde das Riesending 1974 getauft, das heute wie ein sehr beleibter Gast in der „Randspiele“-Ausstellung gleich beim Eingang thront.
Es ist nicht ganz falsch, zu behaupten, dass die alljährlichen Festspielwochen für Bregenz eine Art reziproker Babbelplast sind: Die Stadt wird förmlich durchlüftet. Bei der Eröffnung der „Randspiele“ holt der Festredner historisch aus. Damals sei Vorarlberg ein „enges, friedhofsartiges, erzkonservatives“ Land gewesen. „So wie heute“, murrt ein maliziöser Besucher. In Bregenz verschmelzen zuweilen Vor- und Rückwärtsbewegung.
Die „Randspiele“ sind ein guter Ort, um Mirjam Steinbock, 49, zu treffen. Steinbock ist seit 2017 Obfrau der IG Kultur Vorarlberg. „Der Ort am See soll urbaner Hotspot sein“, sagt Steinbock, die Bregenz liebt und gern Lobbyarbeit macht: „Dazu gehört aber weit mehr als ein Monat Opernspektakel. Wir haben hier eine enorme Dichte an künstlerischen und soziokulturellen Strömungen.“ Die Festspiele, sagt Steinbock, seien die sprichwörtliche Insel im Meer. Die Festspiele wurden 1946 ins Leben gerufen – anfänglich auf zwei Kieskähnen im See. Die eine oder andere Brücke könne auch heute nicht schaden, bedeutet Steinbock.
Eine kurze Autofahrt zu den nächsten Terminen nach Vorkloster, wo die meisten Menschen in Bregenz leben. Die Innenstadt ist neuerdings autofrei, dafür an den Rändern zähes Stop and Go. Radio Vorarlberg sendet den Sonntagsgottesdienst aus der Pfarre Bregenz Herz Jesu. Die nächste Nahtstelle: „Gott schenke den Festspielen, allen Künstlerinnen, Künstlern und Mitwirkenden seinen Segen“, richtet der Priester seine Bitte gen Himmel.
Chor und Musik in der Kirche Herz Jesu klingen derart erhebend aus dem Radio, als käme Haydns „Theresienmesse“ direttissima aus dem Petersdom in Rom, was wiederum auf die Internationalität von Bregenz zuträfe, von der die eigens produzierte Festspielzeitung schwärmt.
In einer aufgelassenen Wollfabrik hat vor 26 Jahren das „Theater Kosmos“ Quartier bezogen. Die Intendanten Hubert Dragaschnig, 63, und Augustin Jagg, 61, sind den Spielen am See treu verbunden, in gewisser Weise ging das „Kosmos“ aus den Festspielen hervor. „Die ganze Stadt hängt an den Seespielen“, sagt Dragaschnig. „Die künstlerische Qualität ist mehr als respektabel“, ergänzt Jagg: „Nach allen Seiten offen.“ Dragaschnig skizziert den Bregenzer Weg: „Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch.“ Koexistenz statt Konkurrenz.
Ums Eck vom „Kosmos“ ist das Atelier der Bühnenbildnerin Caroline Stark untergebracht, die mit dem Regisseur Stephan Kasimir das „Ensemble für unpopuläre Freizeitgestaltung“ leitet. Stark, 45, kennt die Festspiele als langjährige Saisonbühnenarbeiterin. Kasimir, 42, erinnert sich an die frühen aufrührerischen Tage. „Wir mischten Cola und Rotwein, hörten Nirvana und zürnten den Festspielen, weil wir nicht ungehindert baden konnten. Lange her, auch das Diesel-Trinken.“ Zur Erklärung: „Diesel“, so hieß das eher bedenkliche Cola-Rotwein-Mischmasch. Inzwischen ist schulterzuckender Pragmatismus eingekehrt: „Die Festspiele gibt’s halt.“ Stark ergänzt: „Sie spielen für uns kaum eine Rolle.“
Für kleine Guerilla-Aktionen ist Caroline Stark ohnehin andernorts zuständig. Sie gießt jeden Tag eine Betonfaust ihrer rechten Hand. Einmal platzierte sie vor einen der berühmten Betonporsches von Fast-Festspielleiter Bechtold ein Bobby-Car aus Beton, was wiederum Bechtold nicht gerade konsensual aufnahm.
Zurück ins Zentrum. „Kunsthaus Bregenz“ klingt himmelweit weg von dem, was das Ausstellungshaus am See sein will. „KUB“, so sagt man in Bregenz: kurz, schnell, gegenwärtig. Der glänzende Bau hat der Landeshauptstadt selbst auch schon den Daumen runter gezeigt, und zwar buchstäblich. Maurizio Cattelan entwarf 2008 ein Bild mit Riesen-Thumb-down und rotem Schriftzug „Bregenz“, auf dem die Stadt lichterloh brennt.
Der Klimawandelsommer 2022 lässt eher an Kürnberger als an Cattelan denken. „Im Sommer ist Bregenz eine Hölle“, berichtete der Schriftsteller Ferdinand Kürnberger 1879 einer Freundin: „Die Sonne wirft sich an die Berge und strahlt vom Seespiegel zurück und alles, alles ist Hitze. Man lebt wie in einem Ofen.“
Die Jubiläumsausstellung des US-Künstlers Jordan Wolfson ist insofern eine Punktlandung: Einem Mann wird Virtual-Reality-mäßig der Kopf zerdroschen, ein Hausdach entpuppt sich als Monsterfratze, eine Kunstpuppe schaukelt sich vor dem Spiegel in ein finsteres Seelennirwana.
Thomas D. Trummer, seit 2015 KUB-Direktor, ist dagegen in doppelter Feierlaune. „Während der Festspielzeit ist Primetime“, sagt er im Sonnenschirmschatten. „Kein Kunstschaffender muss Bregenz mehr im Atlas nachschlagen. Bregenz gehört international längst dazu.“ Wenn nicht alles täuscht, ist Bregenz manchmal wirklich Weltstadt.
Hier hat man schließlich gute Chancen, einem Mann mit schwarzer Hornbrille und weißen Turnschuhen über den Weg zu laufen, Dauerlächeln und Augen groß wie Murmeln. Michael Ritsch ist seit fast zwei Jahren Bregenzer Bürgermeister. An diesem Julinachmittag trifft man Ritsch, 54, in Badehose auf dem verankerten Holzfloß vor der Mili, der ältesten Badeanstalt am See. Man darf getrost ein überzogenes Bild wählen, um Ritschs Wahl zum Stadtoberhaupt zu illustrieren: Er wirkt in Bregenz zuweilen wie der Hecht im Zierfischaquarium – seit Jahrzehnten ist Ritsch der erste SPÖ-Bürgermeister in der ÖVP-Bastion. Das ist, man ahnt es, selbst im gegensatzverliebten Bregenz ein gewagtes Konzept. „In eine abschreckend katholische Gegend sind wir aber hier geraten“, um ein einschlägiges Aperçu des Schriftstellers und Anarchisten Gustav Landauer zu zitieren, der um 1894 zeitweise in Bregenz lebte.
Kürzlich wurde die holprige Straßenpflasterung in den Flanierarealen Kirch- und Römerstraße unter viel Hader und Streit durch einen in der Sonne goldglänzenden, glatten Straßenbelag ersetzt. Manche mutmaßen, dass die Alt-68er, die bekanntlich unter dem Pflaster den Strand vermuteten, sich gerade deshalb gegen die Baumaßnahmen ereifert hätten.
Auf dem Holzfloß spiegeln sich Wassertropfen in Ritschs Brille. Passenderweise spricht er davon, welches „Riesenjuwel“ die Festspiele seien. Er sagt: „Bregenz ist weltweit bekannt. Und das nicht erst seit dem 007-Filmdreh im Festspielhaus 2008, sondern vor allem wegen der Festspiele selbst.“ Vor vier Wochen lud er 1300 Bürgerinnen und Bürger an den See zu einer Bühnenpräsentation. „Wir arbeiten daran, die Bregenzerinnen und Bregenzer auf ihre Festspiele noch stolzer zu machen“, sagt Ritsch, von Bodenseewasser umplätschert.
„Hilfe kommt aus Bregenz“, notierte Kafka im Juli 1916 in sein Tagebuch. Der Satz kommt Ritsch auf dem Holzfloß im See nicht in den Sinn. Er würde jedoch mit großen Augen zustimmen.