Freund oder Feind
Den britischen Historiker Richard Overy begleitet der Krieg seit Jahrzehnten. Er hat Standardwerke zum Zweiten Weltkrieg geschrieben, erst im Vorjahr erschien „Weltenbrand“ in deutscher Übersetzung, Overys monumentale Chronik der Jahre 1931 bis 1945. Den Titel seines jüngsten Buchs hat Overy, 76, jenem klassischen Briefwechsel entliehen: „Warum Krieg?“ Overy begibt sich darin nicht auf den Feldherrenhügel uneingeschränkter Deutungshoheit, sondern umrundet sein Thema in konzentrischen Kreisen. Der chronisch unbeantwortbaren Fragestellung stellt der Zeitgeschichtler keine eilfertigen Erläuterungen gegenüber, er analysiert Krieg nicht in den Dimensionen von Schuld und Sühne. Overy setzt Puzzleteile zusammen, die zwangsläufig das schleierhafte Bild eines unaufhörlichen Menschheitsversagens ergeben. Ließe sich die Spur einer halbwegs gesicherten Antwort auf die Frage nach dem Krieg finden, wäre das 20. Jahrhundert, in dem es laut Overy kein einziges Jahr gab, in dem nicht irgendwo auf der Welt ein Krieg oder Bürgerkrieg tobte, anders verlaufen. Krieg bleibt das zerklüftete Terrain des Spurenlesens, eine kolossale Landkarte des Leids. „Warum Krieg?“ ist kein Nachschlagewerk fortlaufender Barbarei, vielmehr der Versuch, die ordinäre These des NS-Rechtsphilosophen Carl Schmitt, wonach die Menschheit ihre Welt seit je in „Freund oder Feind“ unterteile, minutiös auszubuchstabieren.
Das Unterfangen, Krieg monokausal erklären zu wollen, ist vergeblich. „Theoretiker erklären, was Historiker wissen“, zitiert der Forscher, der an der Londoner University of Exeter lehrt, den US-Politikwissenschafter Kenneth Waltz: „Krieg ist normal.“ Overy durchmisst die Felder der Biologie (Darwin), der Psychologie (Freud), der Anthropologie (die US-Wissenschafterin Margaret Mead behauptete, Krieg sei eine Erfindung) und der Ökologie – Krieg als Kampf um „Lebensraum“, als Effekt von Klimaschocks und Umweltzerstörung. Dazu öffnet Overy eine weitere, grundsätzlichere Ebene: Krieg als ungezügelte Gier nach Ressourcen jeglicher Art, als Ausdruck von Religionsfanatismus, als wahnhaftes Streben nach Macht, verkörpert durch Alexander den Großen, Napoleon Bonaparte und Adolf Hitler, von Hybris und Hass besessene Figuren, die Weltenbrände entfachten.
Overy erklärt die Wege – und Irrwege – zum Krieg. „Betrachtet man diese beiden Erklärungsebenen – den allgemeinen Kontext, der die spezifischen Motive umschließt –, so kann Krieg als eine Mischung von Imperativen verstanden werden, die im Lauf der menschlichen Geschichte erstaunlich konstant geblieben sind“, notiert er: Krieg sei keine „vorübergehende Verirrung“, sondern „integraler Bestandteil der langen Geschichte des Menschen“. Das von der Anthropologie lange Zeit sekundierte Paradigma der unkriegerischen, bukolisch veranlagten Jäger und Sammler, der „edlen Wilden“ (Jean-Jacques Rousseau), kritisiert Overy radikal: „Selbst beim berühmten prähistorischen ‚Ötzi‘ aus dem Gletschereis, der 1991 gut erhalten in den Alpen entdeckt wurde, dauerte es zehn Jahre, bis man entdeckte, dass er eine Pfeilspitze im Rücken hatte – und dass an seinem Messer Blutspuren von mindestens drei anderen Menschen klebten.“
Overys erzählerische Ausgestaltung ist von beeindruckender Detailfülle, frei von Histörchen, es überwiegt strenge Sachlichkeit, was „Warum Krieg?“ zu einer nicht ganz leichten, dennoch lohnenden Lektüre macht. Man lernt: Noch jeder Konflikt zwischen Menschengruppen hatte das Zeug zum Kampf, im schlechtesten Fall zum Krieg. Die Menschheitsgeschichte als gewaltiger Steinbruch von Feindseligkeit und Gewalt, eine gigantische Begräbnisstätte massakrierter Abermillionen.
Kalkulierte Grausamkeit
Selten wird Overys Schreiben von gedämpfter Emotionalität bestimmt: „Menschliche Wesen, vor allem die männlichen, sind die einzige Tierspezies, die über einen langen evolutionären Zeitraum hinweg Artgenossen in großer Zahl getötet hat und dabei oft mit kalkulierter Grausamkeit vorgegangen ist, ungeachtet des Geschlechts oder Alters der Opfer.“ Das gelte von Anbeginn der Geschichte des Homo sapiens bis ins erste Viertel des 21. Jahrhunderts, von der afrikanischen Steppe bis in die Schlachtfelder von Gaza und der Ukraine. Geboren wurde der Krieg vielleicht an jenem Tag, an dem zum ersten Mal ein Mensch sein Vis-à-vis mit einem Stein auf den Kopf schlug – bis heute wird bekanntlich im Kollektiv drauflosgeschlagen. Overy schreibt: „Dem Argument, dass Menschen, vor allem moderne Menschen, eine Aversion gegen das Töten hätten, kann man als Gegenbeweis entgegenhalten, dass im Zweiten Weltkrieg 100 Millionen Männer aus allen gesellschaftlichen Schichten nach oft nur kurzer militärischer Grundausbildung dazu gebracht werden konnten, viele Millionen Artgenossen mit Bomben, Granaten, Gewehrkugeln oder Bajonetten umzubringen.“ Dazu Millionen ins Gas zu treiben.
Das brüchige Hin und Her zwischen Krieg und Frieden führt Overy zu einer beunruhigenden Conclusio. „Die Aussicht auf eine Welt ohne Krieg erscheint verschwindend gering“, notiert der Autor. „Alle Erörterungen der Ursachen von Krieg laufen auf die Frage hinaus, ob es wahrscheinlich ist, dass Krieg auf der Agenda der Menschheit bleiben wird.“ Solange es Atomwaffen gibt, lässt sich ein Atomkrieg nicht ausschließen: „Der Grund für den Besitz von Atomwaffen war stets, diese im Fall einer extremen Bedrohung auch einzusetzen, ob diese nun real ist oder nicht.“
„Werden wir Krieg haben?“, fragte der Schriftsteller Bertolt Brecht bereits 1951 in einem offenen Brief – und lieferte gleich die Antwort: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“ Einen Dritten Weltkrieg wird die Welt nicht überleben.