Jüdischer Friedhof nicht nur historisch wertvoll

Bücher über das Ende: Wenn du stirbst, bringe ich dich um

Wie von Krebs und Klinik, Schlaganfall und Tod erzählen? Ein Überlebenspaket für Allerheiligen und Allerseelen.

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Das menschliche Leben, stellte Vladimir Nabokov fest, werde zwischen Abgründen gelebt. Der eine gehe unserer Geburt voraus: „Die Wiege schaukelt über einem Abgrund.“ Der andere sei „jener, dem man (mit etwa 4500 Herzschlägen pro Stunde) entgegeneilt“. 

Buchstäblich viel Herzschlagfinale steckt in drei neuen Büchern, die von jahrelangem Siechtum und jähem Sterben, Selbstmordgedanken und letzten Wegen erzählen, geschrieben von drei Autorinnen in ungleichen Lebensabschnitten. Allen drei Büchern ist gemeinsam, dass sie von Tod und Trauer berichten – und höchst lesenswerte Lebenszeichen sind. Für Larmoyanz und Sentimentalität, Großsprecherei und Kleinmut sind diese Autorinnen eher unbegabt. Die Tatsache des Todes kommt ohne schönrednerische Floskeln und abgegriffene Formulierungen aus. Und ohne Dramatisierungen um des Effektes willen.  

Es hat schon unzählige Versuche gegeben, das Sterben zu ergründen. Allein die Wörter aus dem dazugehörigen Sprachsetzkasten füllen Bände: Abkratzen. Den Löffel abgeben. Über den Jordan gehen. In die Kiste fahren. Verlöschen. Heimgehen. Zum himmlischen Vater auffahren. Dem Leben entrissen werden. Das Zeitliche segnen. Ins Gras beißen. Den Holzpyjama anziehen. Die letzte Reise antreten und die ewige Ruhe finden. Die Patschen strecken. Aus der Welt fallen.

Davon erzählt die deutsche Publizistin Gabriele von Arnim, 74, in ihrem Bericht „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“. Darüber schreibt die Schriftstellerin Zsuzsa Bánk, 1965 in Frankfurt geboren, in der Chronik „Sterben im Sommer“. Von dieser Sache berichtet schließlich auch die US-Autorin Sigrid Nunez, 70, in ihrem jüngsten Roman „Was fehlt dir“. Drei Geschichten, die zeigen, was Menschen überleben können, wenn Ehemänner, Väter und gute Freundinnen zum Sterben verurteilt sind. Drei Erzählungen, die versuchen, Wege des Weiterlebens zu weisen, im sicheren Wissen, dass beim Thema Tod vieles in den Wind gesprochen ist. Ein Navigieren im Dunkeln. Eine kleine Schule der Aussichtslosigkeit und Aufmerksamkeit.

Gabriele von Arnim verströmt in „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“ eine Direktheit, die so sympathisch wie zuweilen auch verstörend ist. Eine Gruselgeschichte über Krankheit und Körpergebrechen jagt die nächste, zwei Gestalten geistern verhuscht durch dieses Buch. Gabriele von Arnim arbeitete als Journalistin in New York, als sie den bekannten TV-Kommentator und späteren ARD-Chefredakteur Martin Schulze kennenlernte. Was folgte, war eine Ehe zwischen den Kontinenten, kein in die Länge gezogener Honeymoon. „Ich werde keine Idylle malen“, schreibt von Arnim auch über die lange Zeit des Leidens, an deren Beginn ein Trennungsversuch stand. Gerade als sie sich von ihrem Ehemann lösen wollte, schlug das Übel zu. Erster Schlaganfall. Halbseitige Lähmung. Koma. Thrombosen. Das Wundliegen. Der Infarkt im Kleinhirn, der irgendwann alles Sprechen des einstigen Sprechsüchtigen nahezu verunmöglichte. Die unendliche Abfolge von Ergotherapie, Logotherapie, Massage, Krankengymnastik.

„Ein gefällter Mann“, schreibt Gabriele von Arnim über die zehn Jahre an der Seite eines Schwerkranken, der 2014 starb: „Ein Bär ohne Wildnis.“ Dazwischen immer wieder die unergründliche Heiterkeit des Patienten: „Mein Stuhlgang ist Scheiße“, formuliert er angestrengt, bleich und wächsern im Gesicht. „Witz und Verzweiflung – strange bedfellows, die gern das Bett teilen, wenn man sie lässt und sich balgen um die Daunendecke“, kontert die Ehefrau als Langzeitpflegerin. Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass Gabriele von Arnim Seite um Seite mit klug gewählten Zitaten und herrlich hellen Gedanken füllt. Nichts Vorsichtiges und Verklausuliertes strahlt aus „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“, auch wenn die Autorin ihren Ehemann nie bei dessen Namen nennt – und mit sich selbst unerbittlich ins Gericht geht: „Und ich blieb zerfleddert zurück“, schreibt sie: „Eine Figur wie ein auseinandergerissenes Puzzle, dessen einzelne Teile zusammengefügt werden müssten.“

Noch so ein kleiner Moment der Wahrheit aus dem Leben einer Angehörigen, wie ein Röntgenbild: „Weil man mitten im Leben wegzusterben beginnt.“ Am Ende das absehbare Ableben des Kranken als Wahnwitz der Ambivalenz: „Wenn du stirbst, flüsterte ich an seinem Bett, bringe ich dich um.“ 

Zsuzsa Bánk, die für ihren Erstlingsroman „Der Schwimmer“ (2002) vielfach prämiert wurde, umkreist in „Sterben im Sommer“ den Tod ihres Vaters László im sogenannten Jahrhundertsommer 2018, ebenfalls in einem nachtschwarzen Gewebe aus Delirium, Narkose, Medikamenten, Krankenhaus, Schock, Unentrinnbarkeit. „Sterben im Sommer“ ist ein Buch, das halbwegs Ordnung in die Unordnung des Todes und Weiterlebens der Tochter bringen will. László stirbt mit 85 Jahren. Doch die Geschichte ist noch lange nicht vorbei: „Wer diesen Verlust schon erlebt hat, weiß, wie es sich anfühlt, wer ihn noch nicht durchlitten hat, spürt die Angst, ihn bald durchleiden zu müssen.“ Das Buch von Bánk hinterlässt den trostreichen Eindruck, dass die Autorin nicht zu viel Respekt vor dem Tod hat: „Das Leben geht weiter, sagen viele zu mir, das ist der Satz, den ich oft höre, das Leben muss weitergehen, eine Art Mantra der Überlebenden.“ Aber dies, schreibt Bánk, stimme überhaupt nicht, das Leben gehe nach dem Tod des Vaters nicht weiter. „Nur die vielen Nuancen der Trauer fächern sich auf, die große Palette aus Trauerfarbe mit ihren Abstufungen von Grau nach Schwarz und zurück nach Grau.“ Gabriele von Arnim schreibt: „Die Toten sterben in uns hinein, heißt es irgendwo bei Rilke.“ Ihre Enkelin, 5, spendete schnellen Balsam: „So ist das eben, Omama, jeder muss sterben.“

Die namenlose Krebspatientin im Roman „Was fehlt dir“ von Sigrid Nunez setzt dagegen alles daran, von eigener Hand aus dem Leben zu scheiden. Nunez, die 2018 für ihren Bestseller „Ein Freund“ mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, treibt das namenlose Personal in ihrem Roman mit verquer übersetztem Titel „Was fehlt dir“ (Originaltitel: „What Are You Going Through“) auf emotionales Terrain: Die krebskranke Freundin der Ich-Erzählerin verkündet, auf weitere Behandlung zu verzichten – und plant, so darf man es nennen, einen Abgang mit Tusch. Dahinter steckt, wie immer bei dieser Autorin, eine Geschichte. Hinter dem fiktiven, mitunter allzu großzügig mittels Superlativen erzählten Drama einer Freundschaft schimmern Realien: In jungen Jahren war Nunez Privatsekretärin und Monologpartnerin der US-Geistesgröße Susan Sontag, die 2004 nach langem Krebsleiden starb.

Viele Sätze in „Was dir fehlt“ könnten von Sontag stammen: „Fühlt euch elend für mich, aber schnieft und flennt nicht vor mir.“ – „Wie soll ein Mensch sterben, fragte sie. Man bringe ihr den Ratgeber für Dummies.“ – „Unser überwältigendes Bedürfnis, entweder den Kopf in den Sand zu stecken oder alles zu verkitschen.“ Letztes Beispiel, als Replik auf das Kauderwelsch einer Krebsselbsthilfegruppe, wonach die Krankheit Geschenk und Gelegenheit für spirituelles Wachstum sei: „Wer will beim Sterben so einen Schrott hören?“ Subtile Botschaften hat Nunez nicht auf Lager, muss sie auch nicht. Es genügt, sich das Fiasko einzugestehen, das jede Beschäftigung mit dem Ende des Lebens zwangsläufig bringt: „Was tut es schon, wenn ich gescheitert bin.“
Und das letzte Wort? Das gehört, wie so oft, Franz Kafka. Sigrid Nunez zitiert den mit 40 Jahren in Kierling bei Wien laut Totenbuch an „Herzlähmung“ verstorbenen Juristen und Schriftsteller: „Der Sinn des Lebens ist, dass es aufhört.“

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.