Cannes 2015: Ein Auschwitz-Film verstört
Ohne staatstragenden Eröffnungsfilm lässt sich die Weltkinoleistungsschau in Cannes offenbar nicht planen. Catherine Deneuve, die Übermutter der cinephilen Grande Nation, spielt in Emmanuelle Bercots "La Tête haute“ eine Jugendrichterin, die das Schicksal eines schwer erziehbaren Teenagers (Rod Paradot) zu bessern sucht. Bercots Drama weist zwar emotionale Kraft, sozialpolitische Relevanz und Differenzierungswillen auf, den Vorwurf des unbedingten Glaubens an die integrative Macht staatlicher Institutionen musste sie sich dennoch gefallen lassen.
Familiäre Spannungen
Das Konzept der Familie erforschten auch die ersten Wettbewerbsbeiträge: Japans Filmfeingeist Hirokazu Kore-eda blieb im Privaten und lotete nuanciert (wie einst der große Yasujiro Ozu) familiäre Spannungen und geschwisterliche Solidarität aus - sein "Umimachi Diary“ skizziert den Alltag dreier junger Frauen, die nach dem Tod des gemeinsamen Vaters ihre 15-jährige Halbschwester, von deren Existenz sie nichts wussten, bei sich aufnehmen. Yorgos Lanthimos ("Dogtooth“, 2009; "Alpis“, 2011) dagegen, einer der Hauptvertreter des neuen griechischen Autorenfilms, erzählte - freilich ganz anders als Bercot - in seiner dystopischen Groteske "The Lobster“ von der öffentlichen Verwaltung des Privaten: Die totalitär gelenkte Zwangsverpartnerung, die Lanthimos heraufbeschwört, produziert eine herzlose, ins Animalische abgleitende Gesellschaft. Der Liebessurrealismus, den "The Lobster“ in Anschlag bringt, übt zynische Kritik an einer Politik der Überreglementierung. So demonstriert Griechenland dem neuen Europa in Zeiten der wirtschaftlichen Ohnmacht immerhin kulturelle Satisfaktionsfähigkeit.
Ein Regiedebüt aus Ungarn wagte sich dann aber am weitesten in eigentlich unbetretbare Zonen vor: László Nemes, 38, ehemaliger Assistent Béla Tarrs, unternimmt in "Son of Saul“ nichts Geringeres als eine Reise ins Inferno der Todesfabrik Auschwitz-Birkenau. In grauenerregenden Details malt Nemes 36 Stunden im Leben eines Mitglieds des für die Zuweisung der Deportierten in die Gaskammern zuständigen "Sonderkommandos“ aus. Saul meint unter den Opfern seinen Sohn zu entdecken und fasst gegen alle Vernunft den Plan, im Vernichtungslager einen Rabbi zu finden und das Kind zu bestatten.
Atemberaubend anmaßend
Die Handkamera bleibt ganz nah an Saul, drängt die Exekutionen, die Leichenberge und die Verbrennungen an die Ränder, in den Unschärfebereich der - auf 35mm-Material gedrehten - Bilder. Auschwitz im Oktober 1944 als plastische Re-Inszenierung, gefiltert durch den Blick eines fiktiven KZ-Häftlings: Nicht nur im Umfeld eines von Glamour und billiger Ereignishaftigkeit getriebenen Festivals wie jenem in Cannes erscheint die Idee, über einen solchen Film den singulären Terror von Auschwitz auch nur annähernd mitteilen zu können, geradezu atemberaubend anmaßend; und die Courage, die zweifellos nötig ist, um ein solches Projekt überhaupt ins Auge zu fassen, verwandelt sich, befeuert von dem speziellen narzisstischen Perfektionismus des Regisseurs, erst recht in bloße "Kunstfertigkeit“, die angesichts dieses Themas, dieses Schauplatzes aber fehl am Platz ist. Um von Auschwitz berichten zu können, braucht man nicht Formvollendung, sondern Verantwortungsbewusstsein.
Der beeindruckende Darsteller des Saul, den die Kamera 105 Minuten lang praktisch nicht aus den Augen lässt, ist übrigens ein Laie: Im Gesicht des ungarischen Dichters Géza Röhrig, der seine Mission mit minimalistischem Schauspiel verfolgt, zeichnen sich erstaunlich direkt Todesangst, Traumatisierung und die letzte Entschlossenheit eines Menschen ab, der weiß, dass er der Hölle des Konzentrationslagers nicht lebend entrinnen können wird. Wie die Jury, die ihre Arbeit unter dem Vorsitz der Coen-Brothers aufgenommen hat, allerdings auf Nemes’ Mischung aus technischer Virtuosität und obszöner Ästhetik reagieren wird, steht derzeit in den Sternen.