Cannes 2019: Out of Time. Hippie-Hass und Hollywood-History à la Tarantino

Cannes 2019: Quentin Tarantinos "Once Upon a Time ... in Hollywood"

Cannes-Tagebuch (IV): Quentin Tarantinos jüngster Gewalt- und Kinonostalgie-Trip wurde den gespannten Erwartungen leidlich gerecht.

Drucken

Schriftgröße

Das leise Zittern des Bildes verriet es gleich in den ersten Sekunden der Projektion. Natürlich musste Quentin Tarantinos neuer Film, formvollendet und stilgerecht, als analoge 35mm-CinemaScope-Kopie zur Uraufführung kommen. Alles andere wäre in diesem Fall nichts als ein fauler Kompromiss gewesen, denn „Once Upon a Time ... in Hollywood“ träumt in seiner Erzählung von der US-Filmszene anno 1969 von den Wundern und der Popularität einer funktionierenden, weltumspannenden Filmindustrie.

Kein Film wurde in Cannes, als Wettbewerbsbeitrag sehr kurzfristig nachnominiert (weil die Filmkopie angeblich erst in letzter Sekunde aus Presswerk kam), sehnsüchtiger erwartet als dieser; schon 90 Minuten vor der Pressevorführung reichte der Stau der akkreditierten Besucher so weit zurück, dass man um seinen Platz fürchten musste.

1969, das war nicht nur das Jahr der Spaghetti-Western und der TV-Serials, sondern auch das Jahr der Morde, die von der Manson-Gang begangen wurden. So mischen sich in „Once Upon a Time ... in Hollywood“, dem englischsprachigen Verleihtitel von Sergio Leones Italowestern „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968) nachempfunden, Filmnostalgie und Hippie-Satanismus; Sharon Tate (gespielt von Margot Robbie) und Roman Polanski, Bruce Lee und Steve McQueen tauchen auf, aber die eigentlichen Helden dieser schwarzen Komödie sind zwei fiktive Filmarbeiter, ein desperater Fernsehstar und sein gut gelauntes Stunt-Double. Leonardo DiCaprio und Brad Pitt widmen sich dieser Aufgabe mit sichtbarer Lust an der komischen Entäußerung (DiCaprio) und der verdrehten Coolness-Comedy (Pitt).

Tatsächlich gelingt es Tarantino erneut, sich trotz des überhöhten Erwartungsdrucks locker zu machen und etliche denkwürdige Szenen in heiterer Dehnungsdramaturgie zu inszenieren, und natürlich läuft seine kleine Reminiszenz an die Vielfalt des Unterhaltungskinos vor einem halben Jahrhundert auf ein Gewaltfinale zu, in dem der Regisseur den Hass des Establishments auf die Hippies der späten Sixties zynisch für seine Zwecke nutzt – und den Gegenkultur-Satanisten aus dem Kreis um Charles Manson freien Lauf lässt. Allerdings wird dabei Tarantinos Freude am kreativen Umschreiben der Geschichte noch einmal virulent.

So zelebriert der Kino-Nerd Tarantino also weiterhin seine – der Gegenwart fernen (und doch so modischen) – Leidenschaften. Und die Rolling Stones singen im „Once Upon a Time“-Soundtrack ihre alte Hymne von der verstoßenen Geliebten und der unzeitgemäßen Weltsicht: „Baby, you’re out of time“.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.