Cannes: Aufruf zur Revolution
Wer auf die Barrikaden eines Filmfestivals wie Cannes zu gehen plant, nimmt am besten die mit rotem Teppich ausgelegten Stufen, die ins Innere des gigantischen Kinopalasts beim alten Hafen führen. Ebendies taten nun 82 filmkünstlerisch aktive Frauen; sie stiegen am frühen Abend des 12. Mai 2018, den #MeToo-Moment nützend, auf die Treppen des Palais, um Einspruch zu erheben gegen den strukturellen Chauvinismus des Weltkinos. Schauspielerinnen wie Cate Blanchett, Claudia Cardinale oder Salma Hayek, Regisseurinnen wie Agnès Varda, Ursula Meier oder Alice Rohrwacher, aber auch zahllose Autorinnen, Produzentinnen und Verleiherinnen präsentierten sich gleichsam auf halbem Weg in den Olymp: Die Zahl 82 steht für jene Frauen, die seit Gründung der Filmfestspiele 1942 als in den Wettbewerb eingeladene Regiekräfte die Festivaltreppen von Cannes emporschreiten durften.
Die Anzahl der Männer, die dies taten, ist mehr als 22 Mal so hoch: 1866 Regisseure wurden in den vergangenen 76 Jahren im Rennen um die Goldene Palme nominiert. Aber die Zeiten wandeln sich, wenn auch nicht schnell genug: Respekt wurde in der von Blanchett und Varda gelesenen Rede jedenfalls „allen Frauen und Männern gezollt, die für Veränderung stehen“.
Sieben Stunden davor hatte noch ein alter weißer Mann, der sich längst ironisch als Legende seiner selbst in Szene setzt, die Aufmerksamkeit des cinephilen Kerns unter den Journalisten okkupiert: Jean-Luc Godard, 87, ließ sich im Rahmen einer Pressekonferenz per FaceTime auf ein Mobiltelefon zuschalten, um Fragen zu seinem Wettbewerbsbeitrag „Le livre d’image“ zu beantworten. Mit brüchiger Stimme, aber Zigarre paffend beantwortete der Regisseur geduldig alle Fragen zu seiner Sicht des Kinos und der Welt. Ihn interessierten eigentlich nur noch Fakten, allerdings nicht unbedingt das, was gerade um uns passiere, sondern all das, was skandalöserweise nicht geschehe. Davon handle sein Film. Die perfekte Filmvorführung müsste etwa in einem Café stattfinden, in dem die Töne und Bilder von überall her kämen. Das Herstellen neuer Bilder sei ihm nicht mehr wichtig, sprach das Orakel auf dem Bildschirm des Smartphones noch, denn Kino sei Schnittarbeit und Postproduktion. Er habe in den letzten vier Jahren, in Vorbereitung seines bewegten „Bilderbuchs“, wohl mehr Filme gesehen als Cannes-Chef Thierry Frémaux in seiner gesamten Karriere.
„Le livre d’image“, eine selbst für Godard-Verhältnisse unüblich pessimistische Bestandsaufnahme eines in Krieg und Machtgier versinkenden Planeten, spielt in Cannes in seiner eigenen Liga: Die Collage aus alten und neueren Spiel- und Dokumentarfilmbildern, aus Textzitaten und Musikfragmenten, malt in übersteuerten digitalen Bildern und elektronischen Farben die nahende Apokalypse, den Tod der Demokratie an die Wand. Godards provozierende Montagen sind Lehrstücke in brachialer Poesie: Am Ende steht, ganz folgerichtig, der Aufruf zur Revolution.