Cannes-Tagebuch 2021, Teil drei: Kinophantome und Callboys
Es liegt nahe, wenn man den weiten Weg aus Los Angeles schon angetreten hat (noch dazu mit über 70), nach der Arbeit ein paar schöne Tage an der Croisette anzuhängen. Das legendäre Pop-Duo Sparks, das Story und Musik zum Eröffnungsfilm, zu Leos Carax’ bizarrer Filmoperette „Annette“ verfasst hat, kann man dieser Tage in Cannes beim entspannten Outdoor-Frühstücken beobachten. Das Kino ist den beiden nahe und zwar länger schon, als man meinen könnte. In Unterhaltungsfilmen wie „Rollercoaster“ traten die beiden bereits in den 1970er-Jahren auf, und 2009 veröffentlichten sie das Radio-Musical „The Seduction of Ingmar Bergman“, das mit dem Besuch des großen schwedischen Filmemachers beim Cannes-Festival 1956 beginnt, wohin er mit seiner Komödie „Das Lächeln einer Sommernacht“ gereist war.
65 Jahre später läuft ebendort, im Wettbewerb um die Goldene Palme, ein neuer Film der Französin Mia Hansen-Løve: Er heißt „Bergman Island“ und erzählt eine auf den ersten Blick simple, tatsächlich aber kompliziert verschachtelte Geschichte, die auf der schwedischen Insel Fårö spielt – an jenem Schauplatz, den der mythisch verehrte Regisseur einst als Dreh- und Rückzugsort genutzt hatte. Ein Filmemacherpaar (gespielt von Tim Roth und Vicky Krieps) verbringt eine Residency dort, um´ zu schreiben und auf den Spuren Bergmans zu wandeln. Hansen-Løve lässt die filmhistorische Aura des Ortes einerseits in die Lebenswirklichkeiten und Fantasien ihres Duos, andererseits in die eigene kreative Arbeit am Kino spielen. So entsteht ein selbstreflexives Spiegelkabinett, das von vielem zugleich erzählt: von Tourismus, Beziehungsproblemen, Schreibblockaden und etwa den fluiden Identitäten jener körperlosen Gestalten, die wir über die Kinoleinwände huschen sehen.
Vom Kino und seiner Historie erzählt auch der Film „Moneyboys“, allerdings viel impliziter als Hansen-Løve, Der neben Sebastian Meises „Große Freiheit“ zweite Spielfilm aus Österreich im diesjährigen Cannes-Programm wurde Montagmittag uraufgeführt: „Moneyboys“ ist das Debüt des in China geborenen, in Österreich aufgewachsenen Regisseurs C. B. Yi – eine kunstvoll stilisierte Erzählung von jungen Männern, die sich – die Armut des Landlebens flüchtend – in den Großstädten als Callboys für reiche Freier andienen, bei besten Einkommenschancen allerdings auch einen hohen existenziellen Preis für ihre Karrieren zahlen. Die makellosen Bildkompositionen des Kameramanns Jean-Louis Vialard, der auch schon mit einem der größten Filmemacher der Gegenwart, mit dem aus Thailand stammenden Apichatpong Weerasethakul gearbeitet hat, sind das Hauptkapital dieses Films, der in ruhigen Rhythmen und langen Einstellungen gehalten ist. Man merkt, wie akribisch C. B. Yi die großen asiatischen Arthouse-Filmemacher studiert hat: Die trancehaften Kamerabewegungen von Hou Hsiao-hsien („Flowers of Shanghai“) sind hier ebenso präsent wie der kühle soziale Realismus des Jia Zhangke oder die schaurig-schönen Neonwelten des Wong Kar-wai.
Die neue Bewegungsfreiheit der Kultur ist einstweilen weiter bedroht: Die auch in Frankreich besorgniserregend steigenden Covid-Fallzahlen heizen in Cannes wilde, von der Festivalleitung jedoch unbestätigte Gerüchte von einem möglichen Abbruch der Filmfestspiele an. Premier Emmanuel Macron wird dem Vernehmen nach heute Abend zur Nation sprechen, welche neuen Schritte zur Eindämmung der Pandemie gesetzt werden sollen.