Cannes-Tagebuch 2021, Teil eins: Störsignale zur Festivaleröffnung

Sand im Getriebe: Leos Carax und die Sparks starteten die Filmfestspiele mit einem synthetischen Showbiz-Musical namens „Annette“.

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Die Behauptung, dass die Menschheit im Zuge der Lockdowns das Kino vergessen hätte, sei mit einem simplen Test aus der Welt zu räumen, sprach der irische Regisseur und Filmhistoriker Mark Cousins („The Story of Film“) am Dienstagnachmittag auf der Bühne des vollbesetzten Salle Debussy, im Palais des Filmfestivals in Cannes. Man möge die Augen schließen und sich die junge Shirley MacLaine in Billy Wilders „The Apartment“ vorstellen, wie sie am Ende über die nächtliche Straße zu Jack Lemmon läuft, das Glück in ihrem Gesicht, den Wind in ihrem Haar; wer diese Szene kenne, werde sie bei bloßer Anspielung darauf unmittelbar vor Augen haben, so Cousins: Denn das Kino sei in uns, in unseren Köpfen, dort sei es nicht zu löschen, denn wir alle seien dessen DNA.

Wenige Stunden später, bei der klangvoll besetzten Gala zur Eröffnung der 74. Ausgabe der Filmfestspiele in Cannes, wurde die Idee eines unverbrüchlichen Filmzaubers noch mehrmals beschworen wie etwas verzweifelt Ersehntes, das sich herbeireden und so konservieren ließe: Die alte „Magie des Kinos“ galt es hier zu verteidigen, als wäre sie eine von veränderten Sehgewohnheiten und digitaler Diffusion attackierte Festung, ein von Abrissplänen bedrohtes historisches Gebäude. Das Aufgebot, das zu diesem Zweck im Kinopalast aufmarschierte, konnte sich sehen lassen: Die US-Schauspielerin Jodie Foster erhielt eine Ehren-Palme für ihr Lebenswerk und hielt eine leidenschaftliche Rede in gestochen scharfem Französisch, Spaniens Chef-Melodramatiker Pedro Almodóvar huldigte ihr, und der New Yorker Jury-Präsident Spike Lee, der als Blickfang in giftigem Rosa über den Roten Teppich geschritten war, meinte lakonisch nur, dass er wünschte, so gut Französisch zu sprechen wie Jodie Foster, es bei ihm aber leider nur zu Brooklynesisch reiche. In dem über die Vergabe der Goldenen Palme 2021 entscheidenden Gremium, das er leitet, wirkt auch die Wienerin Jessica Hausner mit, deren Reputation als eine der führenden Vertreterinnen des Weltautorenfilms damit untermauert wird.

Das cinephile Pathos, das am gestrigen Eröffnungstag mobilisiert wurde, verliert sich im Alltagsleben, draußen vor den Kinos. Es ist seltsam ruhig in Cannes, gemessen daran, dass die bedeutendsten Filmfestspiele der Welt hier gerade zu laufen begonnen haben. Alles ist noch ein wenig heller und heißer als sonst – das Festival findet üblicherweise im Mai statt, aus Virussicherheitsgründen war die diesjährige Edition in den Juli verschoben worden –, aber der notorische Menschenstrom, der sich stets verlässlich entlang der Croisette und der parallel laufenden Rue d’Antibes staute, ist nicht mehr da, ist entspannt flanierenden Urlaubs- und Filmbranchengästen gewichen. Die Covid-Krise hat das Festival verlangsamt und verdünnt, viele Stammklienten vor allem aus Übersee haben offenbar auf das Reisen verzichtet, und auch organisatorisch ist noch einiger Sand im Getriebe: Das Kartenbuchungssystem stürzt verlässlich jeden Morgen für Stunden ab, und die Überprüfung der Impfzertifikate und Testergebnisse verzögert den Einlass in bestimmte Festivalzonen erheblich.

Sehr bewusst streute auch der französische Regisseur Leos Carax („Holy Motors“) Sand ins Getriebe jenes Films, den man zur Eröffnung vorgesehen hatte: ein verqueres, vielfach beklemmendes Meta-Musical, eine Tragikomödie, in dem die Pointen nicht zünden wollen und das Drama einen auf Distanz hält. „Annette“ heißt der Film, besetzt mit Stars wie Adam Driver und Marion Cotillard, geschrieben und komponiert von dem kalifornischen Brüderpaar Ron und Russell Mael, das seit den frühen 1970er-Jahren ein musikalisches Unternehmen namens Sparks führt. Vielleicht ist es die Überdosis an Exzentrik – die wahnwitzige Multiplikation von Carax’ Stilisierungswillen, Drivers um alle Ecken gedachten Spiel-im-Spiel und den vertrackten Kompositionen der Sparks  –, die „Annette“ so irritierend und opak wirken lässt. An dieser Erzählung vom Schock-Comedian und Performance-Künstler Henry (Driver), der seine Liebe zu dem Opernstar Ann (Cotillard) nur in Vernichtungslust umsetzen kann, ist alles synthetisch, von den surrealen Schauplätzen und dem scheinorchestralen Pop-Bombast der Songs bis zu dem Baby, das dem Paar geboren wird: Eine animierte hölzerne Gliederpuppe ist die bizarre Titelheldin dieses Films, in dem eine fast antike Tragödie mit gothic horror und viel bösem Medien- und Celebrity-Sarkasmus verschnitten wird. Ein nicht ganz befriedigender, aber jedenfalls wagemutiger Start in diese so atypischen Filmfestspiele, die nach 26 Monaten Pause, wie das ätherisch singende Marionetten-Baby Annette, selbst zu einer Art geisterhaftem neuen Leben angesprungen sind.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.