Cannes-Tagebuch (VI): Laura Poitras’ „Risk“
Politische Demonstrationen sind im Rahmen großer Filmfestivals selten zu erleben; in Cannes stehen sie praktisch auf der Tagesordnung. Kaum eine halbe Woche nach dem Aktivismus, der rund um Kleber Mendonça Filhos höchst zeitgemäßen Wettbewerbsbeitrag „Aquarius“ am Roten Teppich stattgefunden hat – eine wütende Warnung vor der korrupten neuen Machtelite in Brasilien, deren Intrigen zur Absetzung der Staatschefin Dilma Rousseff geführt haben –, standen am Donnerstagvormittag zwei prominente Verfechter für Informationstransparenz auf der Bühne des Théâtre Croisette: die britische WikiLeaks-Beraterin Sarah Harrison, 34, und der US-Netzaktivist Jacob Appelbaum, 33. Gemeinsam verlasen sie ein Manifest, in dem sie die sofortige Freilassung des seit fast vier Jahren in der ecuadorianischen Botschaft in London internierten WikiLeaks-Masterminds Julian Assange forderten.
Seltsame Ruhe
Den Anlass dazu bot ein neuer Dokumentarfilm, der in der Cannes-Nebenreihe „Quinzaine des Réalisateurs“ uraufgeführt wurde. Sein Titel ist kürz, bündig und programmatisch. Er lautet „Risk“. Und er zeigt, wie eine Reihe couragierter Whistleblower an vielen Fronten gleichzeitig gegen Überwachung und staatliche Geheimhaltungsstrategien kämpfen, obwohl sie sich selbst damit sehr konkret in Gefahr bringen. Es mag embedded journalism sein, den Regisseurin Laura Poitras betreibt, und natürlich steht sie auf der Seite ihrer Protagonisten. Verklärung betreibt sie dennoch keineswegs, betont – ähnlich wie schon in „Citizenfour“ (2014), ihrem Porträt des NSA-Gegners Edward Snowden – auch Assanges Eitelkeiten und das Improvisationschaos, in dem er und sein Team arbeiten (müssen). Die seltsame Ruhe, mit der Julian Assange seiner lebensgefährlichen Arbeit nachgeht, überrascht hier ebenso wie ein eher bizarr verlaufendes Treffen des kasernierten Aufdeckers mit einer leicht indisponierten Lady Gaga.
Aufgeheizte Sujets
Bedeutende neue Erkenntnisse liefert „Risk“ nicht, aber Poitras, die als einzige Filmemacherin über die Jahre hinweg privilegierten Zugang zu Snowden und Assange genießt (und deshalb auch selbst auf der US-Terroristen-Watchlist geraten ist), zeichnet doch ein tiefenscharfes Bild vom Alltag professioneller Enthüllungsspezialisten –, und sie tut dies erstaunlich pathosfrei, ohne Rückzug in den Glamour des Heroischen; keine geringe Leistung angesichts eines derart aufgeheizten Sujets.
Die Fiktion wird „Risk“ – und Poitras selbst – trotzdem demnächst einholen: Für September hat Regisseur Oliver Stone seinen Spielfilm „Snowden“ angekündigt, in dem Joseph Gordon-Levitt als Titelheld und Oscar-Preisträgerin Melissa Leo als Laura Poitras in Szene treten werden.