Den Terror verschlafen: Das Leben nach „Charlie Hebdo“
Catherine Meurisse hatte verschlafen. In der Nacht hatte sich von dem Mann getrennt, in den sie unglücklich verliebt war. Liebeskummer raubte ihr den Schlaf. In der Früh verpasste sie dann auch noch den Bus. Kurz vor dem Büro begegnete sie auf der Straße ihrem Kollegen Luz, der etwas zu spät bei der Arbeit angekommen war. Er hielt die junge Zeichnerin auf. In der Redaktion von „Charlie Hebdo“ gebe es eine Geiselnahme. Doch es war keine Geiselnahme, wie sich schnell herausstellen sollte, sondern ein grausames Blutbad. Liebeskummer rettete Meurisse das Leben.
Elf tote Kollegen
„Die Leichtigkeit“ ist das Tagebuch einen schweren Traumas. Catherine Meurisse erzählt darin in dunklen Tuschezeichnungen vom Leben danach; nur manchmal hellt sich die Stimmung auf. Sie gehörte zum Team der französischen Satirezeitung „Charlie Hebdo“, deren Redaktion am 7. Jänner 2015 von zwei schwer bewaffneten Islamisten angegriffen wurde. Der Anschlag hatte auch ihr gegolten. Immer wieder setzte sich die „Charlie Hebdo“ mit Islamismus auseinander, veröffentlichte Mohammed-Karikaturen und Sonderausgaben zum Thema.
Elf Redaktionsmitglieder wurden an diesem schwarzen Tag erschossen; darunter namhafte französische Zeichner und Journalisten wie Cabu, Honoré, Wolinski und Charb, der Herausgeber des Magazins. Die Täter, die sich später zu Al-Qaida bekannten, erschossen auf ihrer Flucht noch einen Polizisten, der zur Redaktion geeilt war. In „Die Leichtigkeit“ erzählt Meurisse auf 136 Seiten von ihrem Jahr danach.
Blanker Horror
Die Monate danach geht Catherine Meurisse mit wackeligen Beinen durch den Alltag. Sie macht weiter, trotz alledem. Mit nur 25 Jahren wurde die heute 36-Jährige vom Fleck weg als Zeichnerin engagiert. Doch was soll man machen, wenn nicht mal mehr die Kunst Trost spenden kann? Wenn der Therapeut einem erzählt, dass das eigene Gehirn eine Erinnerungsanästhesie ausgelöst hat, um sie vor den eigenen Erinnerungen zu schützen.
Meurisse hat überlebt. Sie ist eine Überlebende. Dieses Schicksal teilt sie mit vielen Menschen. Die Terroranschläge der letzten Jahre haben nicht nur unzählige Menschenopfer gekostet, sondern viele Überlebende hinterlassen. Paris, Nizza, Berlin, Istanbul. Ein glückliche Fügung, die der blanke Horror ist.
Wie befreit man sich von dieser Last, von Tod, Hass und Terror? Ihre Antwort: „Was mir nach dem 7. Jänner plötzlich als das Kostbarste erschien, das sind die Freundschaft und die Kultur.“ Die Schönheit der Welt wird zum Allheilmittel. Das Meer, die Bäume und den Himmel. Das Licht. Sie habe ihr Buch „Die Leichtigkeit“ genannt, sagte sie unlängst in einem Interview, weil sie genau diese Einstellung nach dem Anschlag verloren hat. Dass sie sich dieses Lebensgefühl wiedererobern konnte, ist der große Trost dieser Überlebensaufarbeitung.